Dorothea Franck

Dorothea Franck schreibt über Sprache, Literatur und Philosophie. Sie beschäftigt sich mit der Poetik des Alltags, der Logik der sinnlichen Intelligenz und dem Zusammenhang von Ethik und Ästhetik.

Brauchen wir noch Gedichte?

Zuerst ein Zögern. Das Wort „Gedicht“ fühlt sich nicht so recht wohl neben dem Wort „brauchen“. Doch soll der Frage nachgegangen werden in der Hoffnung auf Beifang, was unser Verständnis von Sprache betrifft – und das von uns selbst.

Wir brauchen sie noch. Natürlich. Ich brauche sie und jedenfalls die kleine Minorität der Gedichte-Leser. Reicht das zur allgemeinen Aussage„wir brauchen sie“? Ja, denn die Bedeutung des Gedichts geht weit über die individuelle Freude am Gedicht hinaus: die Sprache braucht sie, und Sprache, eine reiche und frische Sprache brauchen wir alle. Gedichte sind Sauerstoff für die Sprache und damit auch für unsere geistige Existenz. Auch führen uns manche Gedichte in einen Modus des Seins, der uns über rein kognitive Hinweise nicht erschließbar ist. Brauchen wir sie noch im digitalen Zeitalter? Ja, gerade dann.

Diskret und analog, Sinn und Sinne

Die Sprache ist eine geniale Verbindung zwischen der diskreten und der analogen Natur unserer Intelligenz. Und das Digitale ist sozusagen der Extremfall des Diskreten. Die funktionale „mechanische“ Seite der Sprache, ihr „Gestell“, bedient sich einer beschränkten, beherrschbaren Menge definierter Einheiten und grammatischer Ordnungsfunktionen: Laute, Wörter, Satzkonstruktionen, die kollektiv lernbar und stabil übertragbar sind. Das ist die objektivierbare, sogar mechanisch generierbare Seite der Sprache. Sobald wir aber auf die Ebene der Bedeutung und der sinnlichen Erfahrung gehen, wird die Sache schon etwas schwammiger, denn hier trifft die öffentliche Seite auf die subjektive. In der sozialen Interaktion wird die gemeinsame Bedeutungszuschreibung zwar für jeden normalen Austausch ausreichend stabilisiert. Wir können uns verständigen, denn wir haben den Gebrauch gelernt. Was jedoch jeder Einzelne subjektiv mit einem Laut, einem Wort, einem Satz oder Text verbindet, ist niemals direkt zugänglich. Die Reichweite der Bedeutung, die Assoziationen, Erinnerungen und Anmutungen, die sich mit einem Ausdruck verbinden, entstehen im Individuum und bleiben an das Individuum gebunden. Wir können uns natürlich auch darüber verständigen, aber eben auch nur wieder mittels der Sprache, wir bleiben in ihrem Kreis gefangen. Im innersten Kern der Sprache bleiben wir einander undurchsichtig. Aber gerade diese Opazität ist es, die uns immer neu herausfordert. Wenn die Sprache jedoch nicht nur in diskreter, „mechanischer“, sondern auch in analoger Weise kommuniziert, kann sie mehr vermitteln, als auf rein funktionale Weise darstellbar wäre. Die analoge Seite der Sprache kommuniziert sinnlich und assoziativ. Sprachlaute, Wortmelodie und Rhythmus erwecken Resonanzen, die über den kognitiven Gehalt hinausgehen. Auch wird die Bildlichkeit der Sprache zu neuer Bewusstheit erweckt, wenn konventionalisierte Metaphern im dichterischen Spiel wieder zur Sichtbarkeit gebracht werden. Und mit neuen Bildern und Analogien führt die Dichtung der Sprache ständig neue Ausdrucksmöglichkeiten zu. Es ist kaum einem heutigen Sprecher bewusst, in welchem Ausmaß sich das Repertoire konventioneller Sprache ursprünglich der Dichtung verdankt. Goethe-, Schiller- oder Shakespeare-Leser haben vielleicht noch eine leise Ahnung davon.

Die kognitive, „diskrete“ Seite der Sprache stellt einen arbiträren, rein konventionellen Bezug zwischen Zeichen und Bezeichnetem her. So zumindest sieht es die strukturalistische Sprachwissenschaft und so mag es auch dem Laien erscheinen, wenn man primär auf die Referenz achtet beziehungsweise auf die Unterschiede der Sprachsysteme. Ob wir einen Gegenstand „Tisch“, „mesa“ oder „table“ nennen, ändert wenig am referentiellen Bezug, – auch wenn sich die Umrisse der Bedeutung in jeder Sprache etwas anders gestalten.

In einem dichterischen Zusammenhang ergibt sich ein anderes Bild. Wir machen eine andere Erfahrung, je nachdem ob ein Wort mit „t“ oder „m“ beginnt, ob ein „i“ oder „e“ oder „a“ erklingt, ob es ein- oder zweisilbig ist, ob es zu anderen Wörtern Formähnlichkeiten hat oder reimt. Die Dichtung spricht nicht nur unsere kognitive sondern unsere sinnliche Intelligenz an. Auch mögen die Wörter oder Sätze beim Leser Resonanzen mit anderen Texten und vielerlei persönlichen Vorlieben und Erfahrungen erzeugen. In der Poesie zählt die Erfahrung, die von der Gestalt ausgeht und diese in allen Aspekten mitnimmt auf die Ebenen des Sinns. Die Verwandtschaft der Begriffe Sinn und Sinne wird in der Dichtung evident.

Die Intelligenz der Sinne

Was heißt nun „sinnliche Intelligenz“? Jeder unserer Sinne hat eine eigene Intelligenz, und diese Intelligenzen sind auf vielfältige Weise miteinander vernetzt. Genau wie die kognitive Intelligenz kann auch die sinnliche Intelligenz geübt und verfeinert werden. Wir schärfen damit nicht nur unsere Wahrnehmung und schulen die Sensibilität für die Finessen der Sprache. Wir nehmen uns selbst genauer wahr. Um in uns hinein zu sehen, benötigen wir einen Spiegel. Der Spiegel der Dichtung tut hier gute Dienste.

Da unsere Erfahrungen, Fähigkeiten und Wahrnehmungsgewohnheiten nie die gleichen sind, sind diese komplexen Vernetzungen weitgehend persönlich. So kann ein Farbenblinder ja durchaus die Wörter Rot oder Grün so benutzen, dass man von der Blindheit nichts bemerkt. Auch wenn wir uns verstehen, bleibt ungewiss, was konkret verstanden wird. Gerade deshalb können wir uns nie ganz mit einer rein kognitiven Verständigung begnügen, denn unter der Oberfläche des vereinbarten und im praktischen Umgang funktionierenden Sprachgebrauchs brodelt eine unüberschaubare Welt der subjektiven Erfahrung.

In der subjektiven Welt ist jeder zunächst einmal allein. Wir bewohnen zwar von Anfang an eine gemeinsame Welt, wir kommunizieren und kooperieren. Aber die Reichweite des über das Praktische hinaus wirklich Geteilten, die Übereinstimmung von Stimmung, Assoziation, Anmutung und Emotion wird immer offen bleiben. Dichtung kann die Kruste des konventionellen und deshalb letztlich opaken Austauschs zu einem gewissen Grad unterlaufen, weil sie auf mehr als einer Ebene kommuniziert. Die semantische und formale Verdichtung der Mitteilung erzwingt gleichsam eine tiefere Verständigung, weil sie in komplexer Verschränkung unsere Körperlichkeit, sinnliche Erfahrung, ästhetische Sensibilität und vielerlei Resonanzen miteinbezieht. Durch die dichterische Form entstehen möglicherweise zunächst sogar größere Hürden der Verständigung, aber so ergeben sich auch die Möglichkeit – und die Lust – der überraschenden Evidenz und eines tieferen Verstehens. Der Leser fühlt sich erkannt. Man entdeckt sozusagen, dass man – wie der Dichter – nicht „farbenblind“ ist.

Diese Überraschung erlebt sowohl der Dichter wie der Leser. Ein Gedicht zu formen, das eine geschlossene Einheit bildet, in sich stimmig ist und gleichsam seine eigene Evidenz erschafft, ist ja eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Die Verschränkung der verschiedenen Ebenen der sprachlichen Organisation, die Alchemie des Klangs, des Vokabulars, die Labyrinthe des Satzbaus und der wörtlichen und übertragenen semantischen Ebenen überfordern jede durchgeplante Konstruktion, es sei denn der Dichter lässt sich seinerseits von der Sprache leiten und überraschen. Das Gelingen des Gedichts gelingt nur im Spiel.

Das Entstehen des Gedichts ist auch dem Dichter letztlich ein Rätsel. Fleiß, Ideen, bewegende Erfahrungen, handwerkliches Geschick: das alles reicht nicht. Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen, schrieb Adorno. Entsprechend möchte man sagen: gut sind die Gedichte, die auch der Dichter nicht ganz versteht, deren Entstehung auch ihm wunderbar bleibt und dessen Bedeutung auch er nicht ausschöpfen kann.

Entgrenzung und Präzision

Poesie nutzt nicht nur das klangliche sondern auch das semantische Potential der Sprache in anderer Weise als funktionale Prosa. Prosa reduziert das breite Spektrum der Bedeutungsmöglichkeiten auf eine möglichst schmale, eindeutige Spur. Poesie tut das Entgegengesetzte: sie öffnet und entgrenzt. Sie kämpft nicht gegen die lästige Unbestimmtheit sprachlichen Bedeutens sondern nutzt und weitet die Offenheit und findet gerade dadurch zu einer anderen Art der Präzision.

Schauen wir uns doch als Beispiel ein Gedicht an, das wir alle kennen: Wanderers Nachtlied. „Über allen Gipfeln ist Ruh“: Es ist angeblich nicht nur das bekannteste deutsche sondern auch eines der weltweit berühmtesten Gedichte. Es sollte also ein paar essentielle poetische Elemente enthalten.

Es ist so kurz und schlicht, dass man sich fragt, was es vor der Banalität bewahrt. Es passiert nichts Besonderes, stärker: es passiert gar nichts in diesen kurzen Zeilen. Aber es fängt uns ein. Ich möchte uns eine Analyse im Detail ersparen, es gibt wenig Gedichte, die so viel Interpretation erfahren, um nicht zu sagen erlitten haben. Nur auf ein paar wenige Elemente seiner Bauweise soll hingewiesen werden. Der Titel verrät uns, dass es das Lied eines Wanderers am Ende des Tages ist. Klang, Parallelismen und Reim, der sich beruhigende Rhythmus der Zeilen, alles fügt sich in das Thema der Ruhe ein. Der erste und bestimmende Klang des Endreims ist Ruh, der dann mit du erwidert wird und den Leser gleichsam als Mitwanderer miteinbezieht. Danach schafft der Reim einen längeren Spannungsbogen, Ruhe heißt nicht Gleichförmigkeit. Es folgt ein Satz mit anderem Rhythmus und andersfarbigen Vokalen, er ist von provozierender Schlichtheit: Die Vöglein schweigen im Walde. Doch lässt er hinter dem Schweigen noch die Spur einer Melodie erahnen.

Mit einer leisen Ambivalenz eröffnet sich in den letzten Zeilen noch eine andere Dimension. Der beruhigende Satz des Wanderers, Warte nur, balde ruhest du auch könnte zugleich ein sehr beunruhigender sein. Der Blick voraus bringt uns neben dem verdienten Schlaf ja auch die letzte Ruhe in den Sinn, der jeder entgegenwandert. Die Mehrdeutigkeit ist hier keine Last sondern ein erwünschter Reichtum. Die Kraft des Gedichts liegt nicht zuletzt auch darin, dass diese Brauchen wir noch Gedichte? Beunruhigung sich regen aber dann sich auch wieder legen darf, eingebettet in die Ruhe des Gedichtes.
Die Kunst dieses Gedichts liegt in seiner Kunstlosigkeit. Reime und Rhythmen, Anspielungen und Assonanzen wirken wie beiläufig, vollkommen natürlich. Es ist, als wäre es immer schon verborgen in der Sprache anwesend gewesen.

Das Gedicht ist ein Spiel mit der Sprache, man möchte meinen ein Liebesspiel, in der sich die Sprache und das zu Sagende so angleichen, dass sie mit einander entstehen und wie für einander geschaffen erscheinen. Für einen Augenblick verlieren die Formen der Sprache ihre Beliebigkeit. So scheint es uns zum Beispiel hier, dass das „u“ im deutschen Wort Ruhe geradezu dazu gemacht sei, Ruhe auszustrahlen, wir vergessen, dass derselbe Klang in anderem Zusammenhang ganz andere Wirkungen erzielt. Und der zufällige Gleichklang von Gipfel und Wipfel wirkt wie ein Zeichen gegenständlicher Ähnlichkeit. Viele glückliche Zufälle fügen sich so mühelos, dass die Kontingenz der Formen überwunden scheint und der Eindruck entsteht, die Sprache selbst wirke mit. Jeder Dichter wird dies bestätigen: Ein durchgeformtes Gedicht kann nicht „fabriziert“ werden, es muss entstehen. Es muss der Sprache im Spiel entlockt werden und Zufälle so auffangen, dass ihnen Evidenz, wenn nicht gar Notwendigkeit zuzukommen scheint. Die Form bekommt Stringenz, mit der sanften Präzision der Zärtlichkeit.

Die Kränkung der Beliebigkeit: Arbitrarität und Entfremdung

Die geniale Erfindung der Sprache, mit einem beschränkten Repertoire wiederholbarer Formen ein System zu bauen, das unendliche Möglichkeiten generiert, hat ihren Preis: ein weitgehender Verzicht auf mimetische Unmittelbarkeit. Die Sprachwissenschaft unterscheidet zwischen arbiträren, also der Form nach beliebigen, und motivierten Ausdrücken. Die motivierte Form, also Ausdrücke, in denen sich die Bedeutung gleichsam erraten lässt, wie in lautmalerischen Wörtern, oder dort, wo sich zumindest eine gewisse mimetische Resonanz ergibt, ist in den menschlichen Sprachen die Ausnahme. Sonst hätten wir ja eine „vorbabylonische“ Sprache, die eine mühelose Verständigung aller Menschen ermöglichte. Der Streit, ob die Sprache physei, eines natürlichen, also motivierten Ursprungs sei, oder thesei, auf willkürlicher Setzung beruhe, ist so alt wie die Philosophie oder so alt wie das Nachdenken über Sprache schlechthin. Als spekulative Frage des Ursprungs braucht sie uns hier nicht zu interessieren. Anders steht es, wenn es um die Erneuerungsfähigkeit der Sprache in der Gegenwart geht. Der Ursprung vieler sprachlicher Ausdrücke ist sehr wohl ein motivierter, sei es lautmalerisch, bildlich oder durch transparente Ableitung aus bestehenden Formen gebildet. Denn die meisten neuen Ausdrücke werden ja nicht durch autoritäre Erlasse der Sprache hinzugefügt sondern bilden sich spontan im Gebrauch. Dieser hat immer auch eine erfinderische Komponente, da sich die Sprache ja ständig neuen Gegebenheiten anzupassen hat. Wenn wir zum Beispiel ein Wort brauchen für eine technische Neuerfindung, ein kleines, bewegliches Steuerungselement des Computers mit einer Schnur an einem Ende und es Maus nennen, nutzen wir eine bildliche Analogie, die sich sofort durchsetzt, weil sie unmittelbar einleuchtet. Viele Neubildungen entstehen durch poetische und rhetorische Figuren wie Metaphern, Hyperbeln oder Ellipsen und verbreiten sich durch Witz und Griffigkeit des Ausdrucks. Herders verstaubt klingende These, dass der Ursprung der Sprache in der Poesie liege, hat noch immer ihre Plausibilität.

Der motivierte Ursprung gerät aber schnell außer Sicht, wenn der Ausdruck einmal dem konventionellen Repertoire der Sprache eingegliedert ist. Dieses Gefälle von der motivierten zur arbiträren Form ist der Sprache inhärent und unvermeidlich. Es bedarf einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Sprache, um konventionelle sprachliche Formen wieder an ihre ursprüngliche Motiviertheit heranzuführen. Wortwitz, Reim und Alliteration, gewollte Mehrdeutigkeit, Konnotation und Anzüglichkeit – alles findet auch Eingang in die Alltagssprache. Besonders die Werbung weiß sich dieser Mittel reichlich zu bedienen. Es ist der Eindruck der Nicht- Beliebigkeit, der diese Formen eingängig macht, sie werden ohne jede definitorische Anstrengung in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen.

Die Beliebigkeit der sprachlichen Form und damit die Spaltung zwischen unserer sinnlichen und unserer kognitiven Intelligenz kommt uns selten zu Bewusstsein, aber sie bedeutet doch so etwas wie der Fall aus dem Paradies der Einheit von Körper und Geist. So liegt in der Anlage der Sprache schon die Grundlage unserer Entfremdung. Im Gedicht überwindet die Sprache die Kränkung der Beliebigkeit. Es scheint ja seine Bedeutung nicht nur durch Konvention sondern auch kraft seiner Form zu evozieren. Hier kann sich die Sprache – und unsere Lust an ihr – von Abnutzung und sinnlicher Ertaubung erfrischen und erholen. Das kühne Opfer der mimetischen Dimension wird in der Poesie nicht ausgehebelt aber aufgehoben, indem sowohl die arbiträre und die motivierte Seite – momentan – miteinander versöhnt erscheinen. Die analoge Seite gewinnt gleichwertige Kraft. Ernst Jandls witziger Satz Die Rache der Sprache ist das Gedicht bekommt so gesehen noch eine ernsthafte, sprachphilosophische Dimension.

Rätsel und Geheimnis. Lob der Schwierigkeit

Große Gedichte sind eine Provokation. Der Verstand steht vor einem Rätsel. Machart und Wirkungskraft eines guten Gedichts bleiben immer zu einem guten Teil erklärungsresistent. Rätsel aber schärfen den Verstand und Geheimnisse weisen über die Grenzen des Übersehbaren hinaus. Sie befreien uns von der Illusion, alles verstehen zu können oder bereits alles verstanden zu haben.

Dichtung ist eine freiere Sprache als Prosa. Seit der Antike kennen wir den Begriff der poetischen Lizenz; sowohl formal als inhaltlich verfügt poetische Sprache über eine breitere Palette als die Alltagssprache. Sie verlangt nicht nur dem Dichter sondern auch dem Leser mehr ab. Denn die Dichtung legt sich zu den normalen grammatischen Regeln zusätzliche Ordnungssysteme auf, wie Versmaß, Alliteration, Reim, Rhythmus, Strophenform und Länge und was dem mehr sei. Dieser zusätzlichen Ordnung so zu genügen, dass der Inhalt dennoch natürlich fließt und sogar durch die Form gestützt erscheint, ist anspruchsvoll. Aber es verleiht dem Gedicht Memorierbarkeit und eine Art intuitiver Gültigkeit. Der Leser oder Hörer gibt dem als Gedicht erkennbaren Text einen Vertrauensvorschuss, den der Dichter mit gewagteren Formulierungen nutzen darf.

Für den freien Vers moderner Poesie gelten weniger auffällige formale Gesetze. Die komprimierte, oft fragmentarische Form leistet sich semantische und syntaktische Brüche und Inkongruenzen, die risikofreudig bis an die Grenze der Nachvollziehbarkeit – oder darüber hinaus – gehen. Der Dichter hat es hier aber nicht einfacher: er muss ohne formale Mittel den Eindruck hoher Stringenz erzeugen, damit der Leser ihm auch über Brüche und Lücken hinweg zu folgen bereit ist. Interpretative Akrobatik ist gefragt. Das mag Ungeübte irritieren, Entdeckungsfreudige spornt sie an, die kühnen semantischen Sprünge lustvoll nachzuvollziehen. Hier zeigt sich auch, wie stark der Vertrauensvorschuss wirken kann, den wir dem Gedicht zu geben bereit sind. Wir erfahren die kreative Kraft unseres unstillbaren Verlangens nach Zusammenhang.

Der Goldfisch

Jahrtausende lang war das Auswendiglernen wichtiger Texte und die gemeinsame Kenntnis von Epen und Liedern kulturtragend. Die mediale Dauerverfügbarkeit von Texten, Ton- und Filmaufnahmen schien diese mit Zeitaufwand verbundene Praxis überflüssig zu machen. Das ist zu kurz gedacht, denn ein Text, ein Gedicht oder anderes Wissen, das ich mir “einverleibt“ habe, trägt in aktiver Weise zur Bildung meiner im Hintergrund wirkenden Weltsicht bei, es beeinflusst meinen Horizont und prägt den Reichtum meiner inneren Landschaft. Zudem fördert es das Gedächtnis. Kein Wunder, dass mehr und mehr Literaturliebhaber wieder für das Auswendiglernen plädieren.
Vielleicht könnten wir so auch einen intellektuellen Konkurrenten, den Goldfisch wieder einholen. Anscheinend, so wurde 2015 von Microsoft auf einer Medienkonferenz dargelegt, hat uns dieses Tier in den letzten Jahren an Konzentrationsfähigkeit überholt: er kann sich neun Sekunden lang auf eine Sache konzentrieren, während im Zuge der Digitalisierung die durchschnittliche Konzentrationsfähigkeit der Menschen von zwölf auf acht Sekunden gesunken ist.

Der Wettbewerb der intellektuellen Unterbietung in den Massenmedien und die Anbiederungstendenzen in Bildungsinstitutionen produzieren ein Klima der geistigen Unterforderung, dem in den Nischen der Kultur begegnet werden muss. Dichtung ist anspruchsvoll. Ein Anspruch fordert aber fördert auch. Das ist ein wenig in Vergessenheit geraten.

Wozu Dichtung in dürftiger Zeit?

Es ist eine alte Frage. Hölderlins Frage – und Klage – aus der Hymne Brot und Wein, wurde schon zu Tode zitiert, aber ich will sie nennen, denn sie berührt unsere Fragestellung ganz direkt: Wozu noch Gedichte in dieser – dürftigen – Zeit?

Jede Zeit kennt ihre eigene Dürftigkeit. Das Dürftige unserer Zeit ist das Überwiegen des Digitalen. Das Digitale ist das Extrem des Diskreten: das Unterschiedene, Entschiedene, das Reproduzierbare, das Vereinfachte, Null oder Eins. Die diskrete Seite der Sprache ist stabil und steril. Der standardisierte Alltagsgebrauch nutzt zwar die Sprache, gibt ihr aber wenig zurück. Es ist die analoge, sinnliche, spielfreudige Seite der Sprache, die ihr Beweglichkeit, Erneuerung und Verfeinerung bringt.

Gedichte schaffen auch inhaltlich notwendige Freiräume. Es wäre falsch, das Besondere der Dichtung nur an der Form festzumachen. In Poesie wird anderes gesagt und ist anderes sagbar als in der Prosa. Dichtung bewahrt eine Offenheit gegenüber jedweder Thematik, sie ist weniger der ideologischen Zensur des intellektuellen Zeitgeistes unterworfen als fachsprachliche Prosa. Es kann zum Beispiel um große „ewige“ Themen gehen, die wegen früherer Überstrapazierung unter Quarantäne oder in unserer ausgenüchterten Zeit unter generellem Kitschoder Pathosverdacht stehen. Auch bewahrt die Dichtung geduldig ungehobene Schätze. Damit meine ich Rätselsätze, die einem erst Jahre nach der Lektüre plötzlich „aufgehen“, manche warten vielleicht sogar Jahrhunderte, bis ihre Evidenz aufscheinen kann. Ich denke zum Beispiel an den Hölderlin-Satz: Zeit eilt hin zum Ort, der jetzt wie eine ins Subjektive gewendete Relativitätstheorie klingt.

Aber gerade auch unprätentiös Alltägliches bekommt in der Dichtung besondere Aufmerksamkeit. Es ist amüsant zu beobachten, welche Gedichte und Themen unverhofft zu Popularität kommen. So handelt eines der beliebtesten holländischen Gedichte, Jonge sla von Rutger Kopland, von der Unerträglichkeit, im September junge Salatpflanzen frisch gesetzt zu sehen. Unsere Empathie, die sich ja meist auf Mensch und Tier beschränkt, erweist sich fähig, auch mit schlaffen, chancenlosen Salatpflänzchen Mitleid zu verspüren.

Mit Witz und Wachheit reagieren solche Gedichte auf eine konkrete Situation. Jedes gelungene Gedicht trägt der Vielschichtigkeit unseres Daseins Rechnung, indem es Widersprüchlichkeit, Ambivalenz, Paradox, ja Unsinn und Absurdität nicht scheut sondern darin eine lustvolle Herausforderung sieht. Auch die Komik des Alltags kann das Labyrinth unseres Innenlebens an überraschenden Punkten aufblitzen lassen.

Rehabilitierung der Subjektivität

Im Schatten der wachsenden Bedeutung der objektiven Wissenschaften hat die subjektive Perspektive seit Jahrhunderten eine ungeheure Abwertung erfahren. Die Kraft der objektiven Wissenschaft wird aber nicht geschmälert, wenn wir ihr den Bereich der Subjektivität gleichwertig gegenüberstellen und ihr mit vergleichbarer Neugierde begegnen. Kunst und Wissenschaft sind ja keine Konkurrenten sondern komplementäre Domänen unserer Intelligenz. Und wenn die Wissenschaft Erfahrung ernst nimmt, kann auch sie sich nicht blind stellen für die Evidenz der Subjektivität, – unserer durch und durch Ich-förmigen Art der Erfahrung. Wer alles nicht Objektivierbare aus dem gesellschaftlichen Diskurs verbannt, verbannt sich selbst in eine flache und schale Welt.

Das Gedicht erinnert uns an unsere irreduzible Subjektivität. Und nicht nur das. Im Bereich des Subjektiven wird die Membran zwischen Innen und Außen durchlässig. Das zeigt sich insbesondere in der Lyrik. Während die Neurowissenschaft das subjektive Erleben in eine objektive Sprache der Vermessung übersetzt, nimmt die introspektive Sprache der Lyrik das Äußere in die Innenwelt hinein. Es ist bezeichnend, dass sich gerade die subjektivste und hermetischste, um nicht zu sagen esoterischste Form der Dichtung in unserer Zeit am Vitalsten zeigt, weit mehr als Gedichte narrativen oder argumentativen Inhalts.

Das digitale Zeitalter in seiner umfassenden Externalisierung des Erlebens braucht ein ebenso reichhaltiges Pendant der nach innen gerichteten Aufmerksamkeit. Das Gedicht steht auf der Schwelle zwischen radikaler Subjektivität und radikaler Vermittlung, es setzt das Subjektivste der Objektivität der Sprache aus. Es ist, wie Celan sagt „eine Flaschenpost, angespült an Herzland“. Dies ist eine überraschend präzise Formulierung: mit dem Verzicht auf die Kontrollierbarkeit dessen, was genau und bei wem es ankommt, erkauft das Gedicht eine Erweiterung des Bereichs des Mitteilbaren, und trifft diejenigen, die es erreicht, umso tiefer.

Ludwig Wittgenstein, dessen meist zitierter Satz aus dem Tractatus, Worüber man nicht reden kann, davon muss man schweigen ja nicht gerade wie ein Plädoyer für Poesie klingt, weist aber im gleichen Text über diesen Satz hinaus. Worauf es ankommt ist das, was sich nicht (in rationaler Prosa) sagen lässt aber was sich zeigt. Er nennt es das Mystische. Es ist offensichtlich, dass Poesie eher dem Bereich des Zeigens als dem des Sagens angehört.
In späteren Notizen beklagt Wittgenstein immer wieder sein eigenes Scheitern im sprachlichen Ausdruck. Nachdem er im Tractatus zuerst einmal allen spekulativen Wucherungen der philosophischen Sprache durch die Reduktion der Sprache auf ein logisches System zu begegnen suchte, sagt er in den Vermischten Bemerkungen: Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten. Hier berühren sich die Extreme. Philosophische Sprache, wenn sie denn mehr sein soll als ein in sich geschlossenes System logischer Zeichen, müsste Einsichten mit einer völlig anderen Art der Evidenz bieten: der dichterischen. Heidegger würde sagen: man soll die Sprache sprechen lassen. (Leider hat er an seinem Gebrauch der Sprache, die er ja eher forciert als dichterisch-pfleglich behandelt hat, weniger gezweifelt.)
Die Sprache weiß mehr als der Sprecher, wenn sich der Sprecher ihrer Kontingenz mutig aussetzt. Diese beiden Philosophen der Sprache, die ja unterschiedlicher nicht sein könnten, treffen sich doch im Kern: beim Erkennen des Wertes dichterischen Sprechens.

Mystik für Anfänger

All die oben genannten „nützlichen“ Seiten der Dichtung sind nur Nebenwirkungen. Wir lesen Gedichte nicht, um klüger, phantasievoller, spielerischer, sensibler, kreativer zu werden. Wir werden es vielleicht. Doch das ist Nebensache.

Es gibt einen Zustand, den ich den poetischen nenne. Er ist eine Form des Glücks. Nicht das Glück, das sich einem erfüllten Wunsch oder irgendeinem außerordentlichen Ereignis verdankt. Es ist ein Zustand, der alles so lässt wie es ist und der doch alles verwandelt. Adam Zagajewski nennt die Poesie Mystik für Anfänger. Wir erleben einen Augenblick lang eine partielle Aufhebung der Entfremdung. Ohne jede dogmatische Basis oder metaphysische Rechtfertigung findet man sich für einen Moment in einem gefühlten größeren Zusammenhang. Der persistente Zusammenhang des Gedichts breitet sich über das Gedicht hinaus aus. Allda bin ich alles beieinander lesen wir bei Hölderlin. Lyrik führt uns in eine Erfahrung der – eigenen – Präsenz, eine kontemplative Verbindung von Subjekt und Welt in der Sprache. Das von der Gegenwart ablenkende Zerren der Zeit wird kurz außer Kraft gesetzt, die Wahrnehmung der eigenen inneren Resonanzen bekommt Raum. Der Leser kommt zu sich. Nur in meinen Gedichten kann ich wohnen schreibt der niederländische Dichter Slauerhoff. Auch der Leser sucht dort Unterkunft. Franz Kafka sagt es so: Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können.

In einer Zeit, in der jede „Letztfundierung“ widerlegt und verbindliche Systeme der Vertröstung unglaubwürdig geworden sind, brauchen wir eine völlig anders geartete Form der inneren Orientierung. Vor dem Sog der Zerstreuung und dem Nihilismus der Beliebigkeit bewahrt uns kein philosophisches System, was uns hilft sind Momente innerer Sammlung und eine Verankerung im nicht manipulierbaren Kern des Subjektiven. Sie bedürfen keiner ideologischen Untermauerung. Die Lyrik zeigt, dass dies nicht in die Isolation sondern zu vertiefter Kommunikation führen kann.

Auch wenn diese Kraft längst nicht in jedem Gedicht vorhanden ist und gewiss nicht bei jedem Lesen und jedem Leser zur Wirkung kommt, ist das Vorhandensein dieser Möglichkeit doch ein essentieller Bestandteil unseres Selbstverständnisses und eine unverzichtbare kulturelle Ressource.

Und die Zukunft?

Vielleicht werden in Zukunft weniger Gedichtbände gedruckt und gelesen, das wäre ein Verlust. Aber müssen wir uns deshalb Sorgen um die Dichtung als solche machen? Ich glaube an die Resilienz gültiger Formulierung. In dichterischer Sprache verfasste Texte überdauerten Jahrtausende. Homer und Sappho, Horaz und Ovids Verse zeigen sich haltbarer als steinerne Gebäude. Sie scheinen lockerer gefügt als Gesetzestexte und setzen sich doch hartnäckiger als alles andere in unserem Gedächtnis, auch im kollektiven Gedächtnis der Kulturen fest.

Für das große Publikum überwintert das Gedicht in unserer Zeit ja vielleicht in der Popkultur und findet bei manchem singer-songwriter gar zu seinem Ursprung, dem Lied zurück. Wir finden dort ja nicht nur Klischees, wo sich Herz auf Schmerz reimt, wir finden auch reichlich Poesie. Dichtkunst ist als Gesang und rhythmischer Sprechgesang entstanden und drängt wieder dorthin. In Rap, Hip-Hop und Slam- Poetry leben der rhythmische mündliche Vortrag und die Integration mit Tanz und Bewegung wieder auf. Bei den Griechen tanzten die Musen miteinander auf dem Parnass. Sie treten immer schon am Liebsten gemeinsam auf.

Den anderen Künsten hat die Dichtung noch etwas voraus: ihre ökonomische Bedeutungslosigkeit. Sie ist und bleibt der Hungerleider unter den Künsten und das ist gut so. Die inflationäre Kommerzialisierung der bildenden Kunst hat die geistige Bedeutung der Kunst nicht erhöht sondern droht sie zu verschütten. Auch der Starkult in Musik, Film und Architektur ist in der Dichtkunst weit zu suchen. Das schützt sie vor Korrumpierung und falschen Maßstäben.

Könnte es sein, dass nach dem linguistic turn im Denken des zwanzigsten Jahrhunderts jetzt ein poetic turn angesagt wäre? Der philosophische Rückzug auf die Sprache als in sich geschlossenes, unhintergehbares System erwies sich als unfruchtbare Einschränkung. Wenn wir aber dem in unserer Sprachkompetenz angelegten poetischen Potential und der poetischen Qualität auch in anderen Bereichen ernsthaft Wert zumessen würden, brächte dies nicht nur einen Gewinn an Ästhetik, Kreativität und geistiger Beweglichkeit sondern vielleicht auch eine Ahnung einer postmaterialistischen Umwertung der Werte, auf die viele warten.

In der Zeitschrift LETTRE INTERNATIONAL Heft 116, Frühjahr 2017 erschienen unter dem Titel:

Brauchen wir noch Gedichte im digitalen Zeitalter? Tragen sie noch etwas zum Selbstverständnis der Gattung bei?

Der Essay wurde 2016 mit dem ersten Preis des Essay-Wettbewerbs der Klaus und Renate Heinrich-Stiftung ausgezeichnet.