Dorothea Franck

Dorothea Franck schreibt über Sprache, Literatur und Philosophie. Sie beschäftigt sich mit der Poetik des Alltags, der Logik der sinnlichen Intelligenz und dem Zusammenhang von Ethik und Ästhetik.

Minimärchen / hybride Geschichten / neue Kreuzungen: Schneller, schärfer, kürzer.

Serie 1: Emanzipierte Frauen.

Dornwittchen
Dornwittchen  war das Warten satt. Vor Ärger verschluckte sie sich fast an ihrem knackigen Apfel. Der Prinz der Zwerge schlief nun schon 12 Jahre in seinem gläsernen Sarg. Auch die anderen Zwerge, seine Hunde, seine Diener, ja sogar seine Flöhe schliefen unaufweckbar. Sie konnte so weder einen neuen Mann noch eine Wittwenrente bekommen und das war sie jetzt  so satt, dass sie Maßnahmen ergriff. Sie nahm Maß am Fenster ihres öden Turmzimmers und an dem kalten Glaskasten, und als sie sicher war, dass der Sarg durch den Fensterrahmen ging, schnitt sie die Rosendornen ab, die die Fensteröffnung schon fast zugewuchert hatten, und schob den Sarg hinaus. Den Apfelbutzen warf sie hinterher.

Schneeröschen
fuhr gern auf einem gläsernen Schlitten im Schnee. Sie ging nach Davos und fuhr die Hügel hinab, bis sie einen Prinzen gefunden hatte, denn es hieß, das es die dort reichlich gab. Zumindest, das war ihr Plan. Sie fiel aber vom Schlitten und ins Koma und endete im Krankenhaus. Sie ist die schönste Patientin der Abteilung und ihr Zimmer steht immer voll mit Rosen. Jetzt ist die Frage: wird sie da noch viele Jahre liegen (sie war gut versichert) oder zieht  Dr. Prinz den Stecker raus?

Rotstilzchen
Rotstilzchen hieß eigentlich Erika, aber das wußte fast niemand. Sie ging gern mit ihrem roten Mützchen und ihrem Wolfshund namens Wolf im Wald und auf der Heide spazieren. Das hielt sie so gesund, dass sie bis ins Großmutteralter rüstig blieb und immer noch täglich spazieren geht, allerdings jetzt auch mit andersfarbigen Kopfbedeckungen. Sie verabredet sich noch stets gelegentlich zu einem Picknick in einem Hüttchen mitten im Wald, und zwar mit dem Jäger, der auch  der Vater ihrer Kinder ist (sie hießen Rumpel und Käppchen) und ebenfalls noch gut erhalten. Nur der Hund Wolf musste ein paarmal erneuert werden.

Aschenkönigin und Eisputtel
sind zwei Namen für die Gleiche. Sie ist nach außen eine Diva, alle sehen sie als glitzernde Eiskönigin, bewundern und fürchten sie, aber selber ist sie überzeugt, sie wäre Aschenputtel, und wenn sie nicht gerade auf dem Ball tanzt, schrubbt und schafft sie unentwegt und zählt die Erbsen. Kein Täubchen kommt ihr mehr zu Hilfe. Doch niemand dankt ihr ihr Martyrium, denn man erwartet von ihr schließlich ein bisschen mehr Souveränität. Sie aber arbeitet immer härter um des Volkes Gust zu gewinnen und je härter sie arbeitet, desto mehr murrt das Volk und ist mit ihrer Leistung unzufrieden. Aus diesem Missverständnis gibt es keinen Ausweg außer einem ordentlichen Zusammenbruch.