Dorothea Franck

Dorothea Franck schreibt über Sprache, Literatur und Philosophie. Sie beschäftigt sich mit der Poetik des Alltags, der Logik der sinnlichen Intelligenz und dem Zusammenhang von Ethik und Ästhetik.

Tiere und Gespenster

Der Wurm
(Vorgeschichte der Geschichte von den Hindernissen)

Es war einmal ein kleines Mädchen, das war ganz jung schon alt. Sie wunderte sich sehr, wie sie hierher geraten war, in ein Leben, in dem sie sich so wenig auskannte. Die anderen um sie herum handelten, als wüssten sie, worum es geht. Doch sie verhedderten sich ständig in ihre eigenen Gespinste, stritten, schimpften und stampften – und fürchteten sich vor Gespenstern, obwohl sie leugneten, dass es die gab. Sie wussten nicht, dass sie ziemlich blind waren. Das Kind dachte: welch ein Chaos. Die Welt ist voller Gespenstern und möbliert mit unsichtbaren Hindernissen, und die Leute sehen sie nicht und, was schlimmer ist, sie sehen nicht, dass sie sie nicht sehen. So sind sie ihnen ausgeliefert.

Man musste die Hindernisse ausfindig machen. Aber wie? Wie kann man sie sichtbar machen? Man bräuchte eine Spezialkamera – im Kopf. Man muss sie sich denken können, denn man sieht nur was man kennt. Mit der Vorstellung als Falle kann man den Hindernissen dann auflauern. Zu diesem Zweck schaute sie sich Bilder an, viele Bilder. Einige beunruhigten sie so sehr, dass sie kaum hinsehen konnte. Später entdeckte sie, dass gerade so ein Bild ihr sehr nützlich sein konnte. Der Maler hat etwas gesehen, das sie jetzt auch sah. So ein Bild ist ein Spickzettel.

Eines Tages wurde das Kind gemalt und eingerahmt, und zwar mitsamt einem kleinen Biest, das sich ins Bild geschlichen hatte. Ihr eigenes Abbild störte sie nicht – aha: so sieht man anscheinend für andere aus. Das Hindernis war im Hintergrund, da war der Wurm drin.
Wenn man einmal in einem – locker ins Ungefähre des Hintergrunds hingesetzten – rosa Pinselstrich einen Wurm gesehen hat, kann man nie mehr keinen Wurm darin sehen. Der Wurm hat sich einfach an dieser Stelle festgebissen. Er beginnt ganz sachte zu bewegen, wenn sie lange auf ihn starrt. Und das ist schlimm, denn das Mädchen, das aus dem Bilderrahmen schaut, kann sich ja nicht umdrehen. Und seltsam: er ist so deutlich sichtbar und doch sieht ihn niemand außer ihr. Es ist ihr Wurm. Andere werden manchmal von einem Ohrwurm geplagt, sie hat einen Augenwurm.

Hat man den Wurm einmal ins Bild hineingesehen, geht er nicht mehr heraus. Das war in diesem Fall nicht dramatisch, denn sie wusste ja, wie der Wurm ins Bild gekommen war, sie wusste, dass er nur ein bisschen Farbe ist. Aber vielleicht kommt so etwas öfter vor? Und was ist, wenn man das garnicht merkt? Was ist schlimmer, sich über einen hineingesehenen Wurm zu ärgern oder sich nicht zu ärgern aber den Wurm – oder was immer sich eingeschlichen hat – garnicht zu sehen?
Sehen ist gut. Sich selber beim Sehen zusehen noch besser.

Sie sah öfters seltsame Gestalten, die die anderen nicht sahen. Sie hielt es für klüger, nicht davon zu reden, man könnte sie auslachen oder, was schlimmer wäre, sich vor ihr oder, noch schlimmer, sich für sie fürchten. Sie hat darum einen Spickzettel geschrieben, der könnte doch irgendjemandem mal nützen. Hier sind ihre Notizen.

Der kluge Vogel fängt den Wurm. Der kluge Vogel ist der, der sich beim Schauen zuschaut.

Die Geschichte von den Hindernissen

Wie wär doch alles wunderbar, wenn man sich nicht fürchten müsste! Am meisten fürchtet man das Unsichtbare. Am Schlimmsten sind die unsichtbaren Hindernisse.
Wenn man sich fürchtet, hilft nur die Flucht nach vorn. Am Besten, man lädt die Gefürchteten zu einem Fest.
Das ängstliche Mutige-Mädchen lud eines Tages – oder war es nachts? – die fiesesten Hindernisse ein. Sie stellte sich auf den Hügel hinterm Haus und rief so laut sie konnte.
Nichts. Ganz lange nichts. Dann: Staunen. Von Weitem näherte sich eine lange lange lange Prozession dem Bach entlang, alles noch verschwommen, wie im Nebel. Soll sie sich fürchten oder freuen?
Oder hat sie alles nur geträumt? Diese Frage ist entschieden unwichtig. Hier ist

Die Parade der Obstakel

Spitzig wird flauschig
Ha! Sie sah etwas! Zuerst nur eine schwarze Kiste, die stand plötzlich im Weg, aufrecht, mannshoch, länglich wie ein Sarg. Sie hatte Angst, den Kasten zu öffnen. Schließlich wagte sie es doch. Was drinnen war? Eine sardineneng zusammengepferchte Menge frustrierter und schon ganz ermatteter, verwelkter Tiere. Grau und bleich, Vögel ohne Federn, spitzige vertrocknete Saurier, wie Origami-Tiere zusammengefaltet, blasse Basiliske, eingedellte Eidechsen, eckige Reiher, so eng zusammengepackt, dass sich keines regen konnte. Als sie die Türe öffnete, quollen sie alle auf einmal heraus wie aus einem übervollen Besenkasten. Sie fielen in den Bach, der vor der Kiste strömte und schwammen auf ihm weg. Sobald sie ins Wasser kamen, verschwand ihre Gräue und Spitzigkeit. Sie wurden weiß und rund und flauschig, eines wurde zu einem weißen Löwen mit einem Fell wie von einem Eisbären. Friedlich und schlaff wie Plüschtiere wurden die seltsamen Wesen vom Wasser hinweggetragen. Vielleicht war das kein echtes Hindernis, vielleicht kann man mit den Tieren später nochmal was anfangen? Es schien, dass sie zahm und hell geworden waren, nur weil man sie aus dem Kasten gelassen hat.

Das ging aber schnell und schmerzlos. Soll das schon alles sein? Nein, es blieben noch massig Hindernisse und Heldentaten. Sie starrte ins Weite, nach innen und außen gleichzeitig. Das war der Trick.

Falsche Blumen
An der Stelle, an der die Kiste gestanden hatte, stand jetzt so etwas wie ein quadratischer Tisch, eigentlich war es ein roher Block aus Stein. Darauf standen kleine hübsche Blumenvasen. Aus der Nähe betrachtet zeigte sich, dass es keine echten Blumen und Vasen waren. Sie waren aus Sperrholz ausgesägt und bunt bemalt. Hübsch aber steif und eckig und mager zweidimensional.
Der Tisch mit den falschen Blumen stand zwischen ihr und der Person, mit der sie reden wollte. Es sah von Weitem aus wie ein höflicher Empfang, aber die Freundlichkeit war stachelig steif und künstlich, und darunter versteckt lag der steinerne Block, der jeden näheren Kontakt verhinderte. Sie musste lange mit ihren Laser-Augen scharf und genau hinsehen, bis der Stein sich in einen leichten, zusammenklappbaren Tisch mit weißer Tischdecke verwandelte, den sie herumschieben konnte, zum Beispiel hinter sich. Da war er vielleicht später noch nützlich.

Der kleine Weiße
Solangsam wurde sie mutig. Jetzt kommt der kleine Weiße dran. Sie sah im Spiegel des Wassers den Hüter ihrer Müdigkeit. Unter ihrem Blick nahm er Form an. Er lag wie ein Fuchspelz um ihre Schultern. Eigentlich schien er ganz gemütlich. Im Dunkeln war er weiß, ansonsten konnte er alle möglichen Farben annehmen. Er ähnelte einem Leguan, nur dass er sich, solang man ihn nicht störte, weich und kuschelig anfühlte. Er redete ihr ein, er gebe ihr etwas Royales oder Theatralisches, wie der teure Pelz einer neurotischen Schauspielerin. Scheinbar ein harmloses putziges Haustier. Sie hatte sich so sehr an ihn gewöhnt, dass sie ihn lange garnicht sehen konnte.
Er war jedoch ein Parasit. Daher vielleicht die weiße Farbe? Er hatte seine hauchdünnen Krallen in ihre Schulter gebohrt und ernährte sich durch feine, lichtscheue Schläuche, die wie Wurzeln in ihr Fleisch gingen. Die konnte sie nicht einfach herausreißen, sie musste sie von innen hinausdrücken. Und zwar mit starkem Laser-Licht, das man wie eine Paste in die Leitungen presst. Ein Mann aus den Bergen hatte ihr gezeigt, wie man innen Licht macht, war das kein Problem. Sie drückte soviel Licht in die Kanäle, dass das schlappe Viech schließlich von ihr abfiel. Während es auf den Boden fiel, wurde es schon kleiner und als es weglief, schrumpfte es noch mehr. Sie sagte: geh nach Hause. Was fällt dir ein, mich so lang zu belästigen? Er murmelte: ich hab nur meine Pflicht getan. Aber bitte, wenn es nicht mehr möglich ist dich zu hindern, ist mein Auftrag erloschen.
Sie wunderte sich über so wenig Widerstand, fast war sie ein wenig enttäuscht.
Er machte sich auf den Weg in die Ferne. Da stand am Horizont ein kleiner wütender Vulkan, der war seine Heimat, dort musste er wieder hinein.

Grün und bissig
Es gab noch andere lästige kriechende Tiere, die waren grün und bissig. Die meisten sahen aus wie Alligatoren, kleine Krokodile, Geckos, gezackte Leguane und große, grünlich glühende Eidechsen. Auch sie gingen aus dem scharfen Lichtstrahl und wanderten – ein bisschen mürrisch, weil man sie geweckt hatte – Richtung Vulkan.

Die Zweidimensionalen
Sie wollte wissen, wer die Auftraggeber waren. Da sah sie riesige dunkle Schemen im Hintergrund. Dunkelgraue gigantische Gestalten, die drohend mit den Armen wedelten. Bei näherem Hinsehen merkte sie, dass auch sie nur zweidimensional waren, der Form nach eine Nachthemdengestalt und wolkig wie Gespenster. Sie rief ihnen von weitem zu: was habt ihr gegen mich? Sie antworteten nichts Genaues, sie verstand so etwas wie: wir müssen dich kleinhalten. Wenn du groß wirst, werden wir kleiner. Wir fürchten uns. Darum drohen wir. Wir sind sehr groß. Wehe dir. Doch dann fügten sie hinzu: lass uns in Ruh. Sie sagte, okay, auf Gegenseitigkeit. Aber geht mir aus dem Weg.
Sie dachte, vielleicht muss man ihnen was anbieten. Zur Sicherheit, damit sie wirklich Frieden geben. Vielleicht bin ich ihnen ja etwas schuldig. Sie frug die Dunklen, was sie gerne haben wollten. Sie sagten: Glas, buntes Glas, viele kleine Stücke, Berge von buntem Glas. Was das bedeuten sollte, war ihr nicht ganz klar, aber sie nahm sich vor, den Wunsch zu erfüllen. Sie hatte nämlich einen Regenschutz aus buntem Glas. Wenn sie innen leuchtet, sehen die Leute außen bunte Lichter und das stimmt sie fröhlich. Wollten die Grauen vielleicht auch mal glitzern? Brauchen sie eigentlich nur etwas Licht und Farbe? Man müsste es ausprobieren.

Der Dunkle
Dann gibt es da noch einen Dunklen, von dem redet man lieber nicht. Er ist mächtig. Er ist stumm. Er ist. Er setzt sich irgendwo an dir oder hinter dir fest. Um ihn loszuwerden, brauchst du ein Wahnsinnslicht und starke Helfer. Das ist das Geheimnis: Wenn man laut genug ruft, kommen sie.
Der Dunkle geht nämlich, wenn er muss. Mürrisch und lautlos. Wenn er nicht will, leuchte ihm ins Gesicht und frag nach seinem Namen. Sie hat es ausprobiert. Es funktioniert.
Puh

Pappkameraden und fiese Biester

So. Sie dachte: Jetzt bist du wieder oben auf. Aber wir inspizieren noch ein paar andere Ärgernisse, jetzt, wo wir schon mal dran sind.

Will man ein Hindernis überwinden, muss man diesem klarmachen, dass es keines ist. Wenn es dann immer noch eines bleibt, sollte man es nicht vernichten, denn es könnte sein, dass es in Stücke geteilt weiterlebt und sich vermehrt, wie Würmer oder die Wurzeln hartnäckiger Unkräuter. Man muss solange hinsehen und Licht darauf werfen, bis es schrumpft wie Gurkenscheibchen in der Sonne, und schließlich verschwindet. Man braucht gute Scheinwerfer. Der richtige Gesang hilft auch. Man muss aber schon den Ton gut treffen.

Skorpion, zweidimensional
Auf der Straße vor ihr stand plötzlich ein riesiger, dunkler Skorpion. Aber er war flach wie ein Reklameschild, so eine ausgesägte Figur vor einem Restaurant oder einer Tankstelle. Wenn man das einmal gesehen hatte, war die Angst vorbei. Man musste zwar vorsichtig sein, aber wenn man konzentriert bei dieser Sichtweise blieb, konnte man ihn auf die Seite schieben oder einfach einen halben Schlag drehen, in Gehrichtung, dann konnte man an ihm vorbei. Wenn man Angst hätte, wäre er ein happiges Hindernis.

Der Alte
Der Alte ist ein mächtiger Einschüchterer, aber auch er ist nur aus Pappe. Er sieht aus wie der Scherenschnitt von einem Ayatollah oder einem hageren alten Kardinal, in schwarz-weiß und etwas über mannsgroß. Von hinten angestrahlt wirft er riesige, bedrohliche Schatten. Er war einmal ein Zauberer aber er hat seine längste Zeit gehabt, jetzt wirkt er nur noch auf kleine Geister. Fast könnte er einem Leid tun. Man sollte aber die Gefahr nicht unterschätzen von denen, die er noch in der Hand hat. Er stinkt nach Mottenkugeln und schießt auch damit. Weil er so gut wie blind ist, hat er aber noch kaum einmal eine Motte getroffen. Man sollte ihn einfach ignorieren, das grämt ihn zu Tode.

Die Armschlinge
Pass auf vor den beflissenen Helfern: dahinter können sich gemeine Hindernisse verbergen. Die Armschlinge zum Beispiel, das ist so eine dreieckige Armschlinge, innen weiß, außen schwarz, wie man sie benutzt bei einem gebrochenen Arm. Du legst sie in einem Augenblick der Schwäche an. Zuerst scheint sie dich zu unterstützen, dann aber klappt sie zu wie eine Fuchsfalle oder eine fleischfressende Pflanze. Sie verkrallt sich und sorgt dafür, dass der Arm krank und verletzt bleibt. Es ist nicht leicht, sie wieder loszuwerden. Auf keinen Fall darf man sich an sie gewöhnen. Sie abzuschütteln tut aber zuerst sehr weh. Wenn man sie mit Gewalt abreißt, kann das böse Wunden reißen. Man muss sie ganz schleichend, wie in Zeitlupe, abstreifen. Am Besten tut man so, als wolle man sie untersuchen und zieht sie so langsam und behutsam weg, dass die Krallen entspannt bleiben und loslassen. Aber Vorsicht, sie ist wirklich ein gemeines Biest.

Das Ei ohne Dotter
Es gibt zum Beispiel ein Ei, dem fehlt der Dotter, dafür hat es zwei flinke Beine. Es sind kurze Beine wie die der Lügen. Das Ei ist angeschlagen und hohl aber entsetzlich eifrig. Es ist ständig irgendwelchen Aufgaben hinterher, es lechzt nach Pflichterfüllung und erfindet dauernd neue Pflichten, auch für anderen, die sich mit dem Ausbrüten oder Ausgebrütetwerden begnügen wollen. Das erscheint dem Dotterlosen wie Faulheit, eine schwere Sünde, es rennt und rennt und weil es ja zerbrechlich ist, bekommt es immer mehr Risse, bis es irgendwann ganz zerbricht. Man kann ihm nicht helfen. Aber man muss es auf Abstand halten, weil es andere gerne ansteckt mit seiner Hast und dotterlosen Leere.

Die Muffigen
Sie hocken herum und saugen aus jeder Situation den Sauerstoff. Sie sind ziemlich groß und von undefinierbar bräunlicher Form und Farbe. Sie tun ganz unbeteiligt, schauen meist irgendwie beleidigt aus der schmuddeligen Wäsche und man ist geneigt, sie in Ruhe zu lassen, weil man sich die Mühe sparen will, sie in Bewegung zu bekommen. Aber wo sie rumhängen, stagniert alles, die Luft wird muffig, die Stimmung zäh und ein Geruch von Griesgram und Fatalismus schleicht sich unmerklich ein. Du wirst passiv und missmutig. Auch das ist sehr ansteckend.

Die Röhrenwürmer
Wie sich wiegende Würmer in einer Unterwasserlandschaft stehen die biegsamen Röhren aufrecht auf dem Boden und strahlen ein fahles grauweißes Licht aus. Sie wollen nichts Genaues, aber wenn sie einen umgeben, fühlt man sich allein und verirrt, man hat schnell jeden Zusammenhang und Überblick verloren. Man meint plötzlich, man wäre winzig, wie eine Ameise im Dschungel. Das Wollen der Würmer wogt in alle Richtungen, dieses Unausgefüllte liegt vielleicht an ihrer Hohlheit. Sie sind eigentlich harmlos, aber es geht von ihnen etwas so penetrant Wartendes und Erwartungsvolles aus, dass man leicht in Panik oder Schwermut gerät. Es hilft nichts, sich vor ihnen zu ekeln. Man muss sie einfach auslöschen indem man ihren Bluff durchschaut und ihre Unwirklichkeit erkennt, mit einem Blick scharf wie Salzsäure. Sie sind nur ein dreidimensionaler, matschig gewordener Schwarzweißfilm.

Die Nebelschwaden
sind auch nur schwarz-weiß. Nein, nicht einmal das, sie sind garnichts aber auch das nur undeutlich. Eine vage schwammige saugende Leere, nein, saugend ist schon wieder zu genau. Ein Nebel, der vernebelt aber selber unsichtbar ist. Er hindert dich an allem aber immer so unmerkbar, dass man sich nicht wehren kann. Ein farbloser Sumpf aus Luft und Lähmung. Man kann sich tage-, wochen-, monatelang darin verlieren. Die Nebelschwaden bieten keinen Widerstand, deshalb kommst du nicht auf die Idee umzukehren. Höchstens wenn schließlich der Ekel zuschlägt, der Ekel an der Blässe und dem ausgelaugten und abgeschabten Geschmack aller Dinge. Dann ist wenigstens fühlbar, dass dir etwas fehlt. Obwohl lange noch nicht deutlich ist, wie du daran etwas ändern kannst. Die Nebelschwaden sind eine Unterart der Grauen. Die sind im Übrigen nur schwer zu kategorisieren, weil sie durch und durch undeutlich sind.

Die Grauen
Es gibt die große Schar der vagen Grauen, sie erscheinen als undeutliche Massen, man sieht sie nie einzeln, nie genau, sie sind kaum zu unterscheiden von dem faden, fahlen, farb- und glanzlosen Licht, das sie verbreiten.
Sie schaffen dir eine zähe Art von Unbehagen, eine Angst, die so unbestimmt und diffus ist, dass man sie kaum bemerken kann, und das ist das Gemeine. Die Stimmung wird gedrückt und lahm, undeutliche Gestalten hängen stumm in weißlich-grauen Gewändern herum, wartend auf etwas, das sie nie erreicht, aber sie werden das auch nicht ändern. Das ist das fahle tonlose Licht des Hades.

Das blitzartige Grauen, oder der Drache
dagegen ist recht selten. Man findet ihn zum Beispiel unter dem Spieß des Erzengels Michael oder unter dem Schwert von Sankt Georg und ähnlichen Rittern und Helden. Man muss sie mit blitzartiger Schnelle erledigen, dann ist man sie ein für allemal los. Wenn das nicht klappt, gibt es hoffentlich irgendwo einen Edlen Schützer, der das für dich erledigt.

Viel schlimmer ist dagegen
Der große Graue
Er ist so groß, dass man ihn garnicht sehen kann. Der große Graue bringt das große Grauen, weil man einfach nicht weiß, wer, was, wo er ist, was er will, was er kann, wann er kommt, wann er dich – vernichtet? Oder auch nicht? Wenn du dich weigerst, ihn zu denken? Ignorier ihn, wenn du kannst.

Aber jetzt mal heraus aus den Nebelschwaden! Farbe! Bitte etwas Farbe!
Ach, da sind sie schon:

Die Farbigen

Die kleinen Gelben
Es sind kleine gelbe viereckige Fettecken, Fettkissen, freundliche kleine klebrige fettige Vierecke, sie kleben sich immer irgendwo dazwischen wie pappige Ravioli, unter deine Schuhe zum Beispiel, wenn du eigentlich gehen solltest, in deine Mundwinkel, wenn du verlegen grinst, immer freundlich, lachend, ein bisschen quietschend, harmlos wie Smilies, einen fettigen Geruch verbreitend von billigem Öl oder Fritten, irgendwie denkst du, niedlich, die können doch nicht schaden, sind doch nett, nett und fett, aber wenn du genauer hinsiehst…. Sie können alles verderben, die ganze Situation wird verklebt und verstänkert von ihnen, da wo sie sind, passiert einfach nichts Neues, Frisches, Sauberes, sie quetschen die gemütliche Fettigkeit in alle Ecken, verkleben die Fenster, die Augen und die Adern. Das Gefährliche an ihnen ist ihre Harmlosigkeit, das fettige Gelb mit seiner schmierigen Gemütlichkeit verhindert jede gründliche Besserung.

Blaue Möpse
sind blau und durchsichtig wie Glas aber gummiartig beweglich. Sie grinsen, wenn sie an dir vorbei tappen auf der Straße, aber du weißt, sie denken sich ihren Teil. Sie wollen nur gesehen werden, würdigen dich aber keines Blicks. Sie sind eine eiskalte Parallelgesellschaft, du fütterst sie und fütterst sie, eher aus Angst als aus Liebe, und das zahlen sie dir heim, indem sie dir Angst machen.

Feuerauge
Vorsicht. Vorsicht. Feuerauge sieht aus wie ein roter Salamander aber ist über und über mit Augen besät. Weil niemand ihm in alle Augen zugleich schauen kann, wähnt er sich sehr mächtig. Er hütet alte Flüche und sitzt auf ihnen wie der Drache auf dem Nibelungenschatz. Die Verwünschung steht auf seinem Bauch geschrieben und den presst er gegen die Haut dessen, dem der Fluch galt, und das ist ein starker Kleber. Oft sind die bösen Worte längst erloschen, aber das Feuerauge lässt von sich aus niemals locker. Er ist unberechenbar und tückisch. Manchmal scheint nichts zu helfen, um ihn loszuwerden, manchmal braucht man sich nur zu schütteln und ist frei.

Die Lila Heuler
verbreiten einen schwachen aber penetranten Geruch, der ist erst süßlich, dann plötzlich macht er einen bitteren Geschmack im Mund. Sie sind in schlabberige blass-lila und dunkel-violette Gewänder gehüllt und haben überall blaue Flecken. Sie sind Mitleidspezialisten, vor allem Selbstmitleid. Sie drücken dir eine Kerze in die Hand, damit du sie und dich selbst stimmungsvoll beweinen kannst. Sie haben einen Riecher dafür, was dir fehlt, und mischen es mit dem Geruch von ihrem und dem allgemeinen Elend der Mensch- und Tierheit. Sie bemitleiden sich so effizient, dass du weinst und weinst und jeden Gedanken, an dem Elend etwas zu ändern, aufgegeben hast. Sie wollen nämlich, dass alles so bleibt wie es ist. Sonst wären sie ja arbeitslos.

Die Dramatischen! Zwerge!
dagegen sind frisch und energisch, aber sie sind Kriegstreiber. Sie haben einen unerschöpflichen Appetit auf Drama. Sie sind kleine bunte Gesellen, ihr Gang erinnert an Krabben, aber der Gestalt nach sind sie bunt gekleidete Zwerge mit grünen Jäckchen und knallig bunten Hosen. Ihre orangeroten Haare sprühen Funken wie ein Feuerwerk, meist ziehen sie einen spitzen Hut darüber. Sie verstecken sich hinter den Ohren der Personen, die sie angesteckt haben. Sie sind großartige Unterhalter und können spritzig und feurig erzählen. Besonders gut sind sie im Karikieren der Stimme einer Person, auf die sie es abgesehen haben. Sie ergreifen immer sofort Partei, wenn ein Meinungsunterschied in der Luft liegt, und pumpen dann die Sprechblasen voll mit Giftgas. Besonders gut beherrschen sie die Tonarten der Entrüstung, denn Entrüstung ist eine beliebte Art der Aufregung und man fühlt sich herrlich als Ritter der guten Sache. Man findet immer irgendeinen üblen Bösewicht oder eine perfide Konspiration, die es aufzudecken gilt, und gefährliche Idioten, denen man das Handwerk legen muss. Oft sind sie sehr witzig. Es ist wirklich schwer, sich nicht mitreißen zu lassen und es scheint ja ein harmloses Vergnügen. Meist geht der Kampf gegen Abwesende.
Wenn man mitmacht und eine neue Verdächtigung ins Gespräch wirft, blitzen ihre Augen vor Vergnügen. Sie geben sich manchmal auch als Friedensstifter, denn die gemeinsame Empörung hat etwas Einigendes, ein Grund mehr, warum man mitspielt. Aber der Preis ist hoch: sie verlangen Menschenopfer. Die Geopferten sind ja meistens weit weg, manchmal merken sie garnichts davon, es sei denn Klatschbasen und Journalisten sind mit von der Partie. Klatschbasen sind die besten Wirtspflanzen der Zwerge. Manche Medien leben in dauerhafter Symbiose mit den Dramatischen! Die Dramatischen! leben gut dabei, sie ernähren sich von dem explosiven Gasgemisch aus Aufgeregung, Selbstgerechtigkeit und Empörung. Irgendwie sind sie ganz putzig, aber wenn man ihnen freien Lauf lässt, zerfetzen sie die einträchtigsten Gemeinschaften.

Die schiefen blassen Grünen
sitzen immer da, wo du gerade sitzen oder stehen willst. Du merkst sie meistens nicht, aber unwillkürlich stehst oder sitzst du unkonzentriert und schräg und schief da und fühlst dich irgendwie daneben. Du hast immer das Gefühl, dass du gerade irgendwo anders sein solltest und etwas anderes tun müsstest oder etwas Wichtiges versäumt hast oder verpassen wirst. Weil sie dich aus der Mittelachse deiner Zeit und deines Raumes drängen, sind sie auch gute Wegbereiter der anderen Hindernisse, vielleicht werden sie ja von denen bezahlt.

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Und dann gibt es noch die Unauffälligen

Die Spinnweben
weben den Raum der Möglichkeiten zu. Die Spinnen sitzen als Parasiten an der Drüse deiner Phantasie, dann kannst du dir plötzlich nicht mehr vorstellen, wie du etwas gründlich ändern kannst oder frei und fröhlich eine große Aufgabe erledigst. Die Fäden durchziehen deinen Handlungsraum und lassen alles dumpf erscheinen und alle Schwierigkeiten unüberwindlich. Sie sind zäh, wenn sie einmal aufgespannt sind, sehr zäh.

Der Bleistaub
Wenn etwas lange herumliegt, auch wenn es der verkehrte Ort ist, legt sich gern der unsichtbare Bleistaub darauf. Er macht die Dinge, die er bedeckt unsichtbar und so schwer, dass man, auch wenn man sie trotzdem einmal sieht, kaum mehr bewegen kann.

Die beigen Bären
Die beigen Bären sind gemütlich. Sehr gemütlich. Gemütlich, niedlich, gütlich. Sie tun alles, um es auch dir gemütlich zu machen. Sie sind nett und fett und verbreiten Nestgeruch. Knuddelig, muffig, schmuddelig. Sehr anschmiegsam, aber wehe, wenn du weg willst, und sei es auch nur zum Luftschnappen, dann werden sie ungemütlich. Sie ertragen nicht, dass du gehst, sie sind gegen jeden Aufbruch. Sie opfern ihren Honigtopf, um dich zum Dableiben zu verführen. Sie schlachten ihr Sparschwein, um dir deinen Schneid abzukaufen. Sie werden krank, brechen zusammen und drohen, sich oder anderen etwas anzutun. Sie wissen, wie man es dem anderen unmöglich macht Nein zu sagen.

Am unauffällisten aber vielleicht gefährlichsten von allen Hindernissen ist
die Doppelgängerin.
Sie sieht aus wie du, nur ein bisschen besser, redet wie du, bewegt sich, kleidet sich, arbeitet, verdient, lebt wie du, nur in allem ein klein wenig besser. Sie tut, als wäre sie dein ideales Selbst, dein Zwilling, deine Zukunft, dein leuchtendes Vorbild. Doch sie ist ein fieser Schatten, ein parasitäres Gespenst. Sie sorgt dafür, dass du dich immer als Versager fühlst, von diesem Vorsprung blüht sie auf. Denn sie ist nur ein Gespenst, es ist für sie nicht schwer, alle möglichen Formen anzunehmen; diese Dehnbarkeit bezahlt sie mit dem Preis der Unwirklichkeit. Sie traut sich nicht zu leben und rächt sich dafür an den Lebenden. Sie richtet es so ein, dass ihr Vorsprung immer nur so groß ist, dass man sie noch deutlich sieht und sie mit sich verwechselt, also mit der Person, die man glaubt zu sein. Wenn sie sich vernachlässigt fühlt, ruft sie alle anderen Hindernisse zu Hilfe, sie sind ihre body-guards. Doch wenn man ihr nicht auf den Leim geht, können die dir wenig anhaben.

Die Zeitsauger
Schließlich sind da auch noch Graf Draculas Riesen-Barbies, ja die mit mit dem blonden Lächeln und der Wespentaille, aber so groß wie echte Menschen. Sie sind immer – hi hello how are you – strahlend freundlich und über irgendetwas hell begeistert, sie plaudern gern und ergiebig, du wirst sie so schnell nicht wieder los, wenn sie einmal angefangen haben, sich an dich zu klammern. Männer oder Frauen, egal, ihre Opfer sind ihnen hilflos ausgeliefert. Mit erbarmungslosem Charme saugen sie dir Zeit aus dem Leben. Du kannst ihnen nur entkommen, wenn du sie einfach nicht siehst. Man muss konsequent wegschauen oder durch sie hindurch als wären sie Luft. Das bringt sie um. Wenn du auf einer Party bist, trink aus und sag, du holst dir was zu trinken.

Diese Biester sind aber raffiniert, sie gehen mit der Zeit. Die Parties werden seltener, die Leute starren lieber solitär in Monitore. Seit etlichen Jahren haben sich die Sauger digitalivirtualisiert, sie können jetzt jede Form annehmen und sitzen meistens unter deiner Maus oder im Handy, wenn du online bist. Sie sirren und klicken und locken sirenenhaft, aber so leise, dass du meinst nichts zu hören, du glaubst, du klickst selber, freiwillig. Sie wollen garnichts anderes als dass du klickst und klickst und klickst, sie trinken Zeit wie Champagner. Du glaubst, du könntest auch in den Genuss kommen, aber du bekommst nur den Kater – der verlorenen Zeit.

Die Dränger
Kommen schräg von hinten. Sie sind mächtig aufgebauscht, wie Wolkengebirge, aber auch so schwer greifbar. Graue Wolkenungetüme, die so tun, als wären sie solide, als könnten sie dich tatsächlich bedrängen, wegdrängen oder gar in dich eindringen.
Es gelingt ihnen ja auch, wenn man sich beeindrucken lässt. Man muss sich aufplustern und sich von innen ganz mit sich selbst ausfüllen, damit sie nicht heran und nicht herein können. Sie lassen sich mit etwas Kraftentfaltung oder Humor zurückdrängen, ganz vertreiben ist nicht leicht.

Und dann gibt es noch den Zaun.
Er scheint harmlos, steht einfach so herum, mitten in der Landschaft. Nicht sehr hoch, so scheint es zumindest, oben aber ist scharfer Stacheldraht. Der Zaun scheint harmlos, wie irgendein Zaun eben, aber dieser steht immer gerade da, wo man hin will. Hat er Sensoren, kann er Gedanken lesen? Man müsste imstande sein, ihn nicht zu denken, dann hätte er keinen Grund aufzutauchen. Das ist schwierig. Mann müsste üben, aber wie kann man üben, etwas NICHT zu tun?
Diese Frage kann heute noch nicht beantwortet werden.


Irgendwann ging auch diese lange geisterbahnige Parade zu Ende. Welch eine Erleichterung! Sie kannte sich jetzt aus mit den Hindernis-Gespenstern. Nun ja, nicht zu früh gefreut. Es gab sie ja noch! Sie konnten immer noch den Weg verstellen, aber – das sah sie jetzt – nicht mehr in voller Kraft. Wenn man den Power-Blick hat und lacht oder ungeniert genau hinschaut, beißen sie nicht mehr. Fast unterhaltend kann das werden.
Sie führt jetzt die Prozession der Hindernisse an und bringt sie in den Zoo. Beziehungsweise in eine Geschichte. (2009/ 23.Januar 2015, korr. 2022 – 2023)