Dorothea Franck

Dorothea Franck schreibt über Sprache, Literatur und Philosophie. Sie beschäftigt sich mit der Poetik des Alltags, der Logik der sinnlichen Intelligenz und dem Zusammenhang von Ethik und Ästhetik.

WELTINNENRAUM

ÜBER DIE TRANSFORMATIVE KRAFT DER POESIE

wie gelingt es den Wörtern
uns die Schlafenden
in die Nähe des Wachseins
zu führen ohne
es zu benennen?
F. Dodel Nicht bei Trost, Zeile 51290

Warum lesen oder schreiben wir Gedichte?
Meine Küchenwand ist vollgeklebt mit Postkarten, Zeitungsfotos,
Gedichtzeilen und Schlagzeilen, mit Sprüchen, die ich witzig oder
wichtig finde. Bein Vorbereiten dieses Vortrags hing vor meiner Nase
Novalis:
„Hätten die Nüchternen einmal gekostet, alles verließen sie und setzten
sich zu uns an den Tisch der Sehnsucht, der nie leer wird.“

Dann las ich in der Zeitung von einem Arzt, der sagt, ein Alkoholiker
habe ein Loch in der Seele. Daher könne sein Durst nie gestillt werden.
Ich meine aber: wir haben alle ein Loch in der Seele, und wer das nich
spürt, tut mir leid. Es ist das unstillbare Verlangen nach Sinn, nach
Augenblicken von Intensität und zugleich nach Geborgenheit in einem
großen Zusammenhang. Das Problem ist nicht das Loch, das ist ja eine
Öffnung, sondern dass wir es mit ungeeigneten Mitteln zu füllen
versuchen. Wir müssen es zuerst einmal spüren, bevor wir nach
Antworten greifen.

Für Manche unter uns sind Dichtung, Kunst, Musik unverzichtbar, um
damit in Kontakt zu sein. Für einen Moment gibt es da eine Ahnung von
Ganzheit, in der die verstörende Geschiedenheit von Form und Inhalt,
von Körper und Geist und von Außen und Innen aufgehoben ist.
Es heißt ja, dass es in der Dichtung – letztlich – immer nur um zwei Dinge
gehe: um die Liebe und den Tod. Da mag etwas dran sein, aber etwas
anderes – speziell in der Lyrik – ist mindestens so wichtig: aufmerksame
Gegenwart. Die ist uns nicht automatisch gegeben. Dazu braucht es
seelische und sinnliche Offenheit, eine Qualität der Präsenz und
Selbstwahrnehmung, die Innen und Außen verbindet.
Liebende schauen voraus, Sterbende schauen zurück. Die poetische
Blickrichtung ist aperspektivisch, also nicht auf eine Ausrichtung der
Perspektive fixiert. Sie ist beweglich aber rundum in der Gegenwart, – in
Gebsers Worten: integral. Das setzt ein besonderes Bewusstsein voraus.

Unser Bewusstsein ist eine vielschichtige Angelegenheit. Die Phasen der
Bewusstseinsentwicklung, die Gebser in kulturphilosophischer Breite
und Tiefe darstellt (Sie kennen sie: die archaische, die magische,
die mythische und die mentale) – sollte man nicht als überwundene,
schon gar nicht als z.T. „primitive“ Entwicklungsphasen missverstehen,
sondern als Schichten unseres Bewusstseins, die immer in uns anwesend
sind, aber je nach Kultur und Epoche, nach individueller Persönlichkeit
und Situation mehr oder weniger entwickelt sind. Sie sind ein Potential,
das immer da ist. Auch innerhalb unseres Lebens – ja, innert eines Tages
ändert sich, was in uns vorherrscht.
Die Zeit ist seit Gebser nicht stehengeblieben. Die Vorstellung einer
allmählichen kollektiven „Höherentwicklung“, die in der Vergangenheit
in unserer Kultur fast selbstverständlich war (Man denke an Hegel,
Darwin, den Evolutionsgedanken allgemein…), wurde in letzter Zeit
mehr und mehr in Frage gestellt, u.a. durch neue Ausgrabungen
prähistorischer Funde und der zunehmenden Würdigung indigener
Kulturen und Kulturtechniken, gerade auch im Zusammenhang
ökologischer und gesellschaftlicher Verwerfungen. Ein Wissen und
Handeln, das ein symbiotisches Verhältnis zur umgebenden Natur und
einen kooperativen Umgang mit sozialer Komplexität und Diversität hat,
ist alles andere als „primitiv“; im Gegenteil, jetzt werden wir von diesen
uns scheinbar so fremden Kulturen lernen müssen. *

Ich sehe an vielen Orten eine zunehmende Hinwendung zu der Art von
geistiger Einstellung, auf die das ganze Werk Gebsers hinarbeitet und
die er das integrale Bewusstsein nannte. Er charakterisiert es u.a. mit
folgenden Begriffen: gegenwärtigend, konkretisierend und integrierend.
Der Bezug zur Poesie ist offensichtlich. (Synopsis am Ende von Ursprung und
Gegenwart
UuG 696)

Viele sind sich heute der Dringlichkeit einer Wende bewusst, die Gebser
luzide angekündigt hat: eine tiefgreifende kulturelle Transformation hin
zu einer Kultur der Offenheit und multi- oder aperspektivischen
Sichtweise.

Das Entscheidende für uns ist nicht eine perfekte Analyse dieses
Transformationsprozesses, er ist ja gerade erst im Gange. Es geht
darum, die Erkenntnis zu leben. Dazu braucht es nicht nur Klugheit
sondern Weisheit und vor allem Übung. Weisheit geht immer in
Richtung einer Öffnung. Differenzierte Offenheit ist die Richtung der
Transformation, die unsere Zeit uns gebietet. Wie können wir uns darin
üben? Wir brauchen „tools“, möglicherweise auch aus anderen Kulturen
aber natürlich auch aus unserer eigenen Kultur.

Jean Gebser zeigt die entscheidende Rolle von Kunst und Poesie im
Prozess dieser Transformation. Und er gibt auch konkrete Beispiele von
Künstlern und Dichtern, die sich schon verwandeln ließen und somit uns
vorausgehen. So beschreibt er die immense Einwirkung, die Spanien
und insbesondere El Greco auf Rilke hatten und spricht über einen
Wendepunkt im Leben Rilkes: „Der Wendepunkt zu sich selber“ 146 **
Die Freundschaft mit Dichtern und Künstlern wie z.B. Lorca waren für
Gebser von existentieller Bedeutung.

Mich beschäftigt in letzter Zeit nichts so sehr wie das „Klima“ und die
Hoffnung auf eine große Wende. Und zwar bedrängt mich nicht nur die
äußere globale Erwärmung und Verarmung der Natur, sondern auch die
soziale Erkaltung und Polarisierung. Beides sind Formen der
Entfremdung durch unterentwickelte Wahrnehmung und mangelnde
Empathiefähigkeit, die beide mit einer radikalen Spaltung von Innenund
Aussenwelt zusammenhängen. Und mit einer zeitlichen
Kurzsichtigkeit und der daraus entstehenden Hast und geistigen Enge.
Der Philosoph Hans Blumenberg schrieb: Die Enge der Zeit ist die
Wurzel des Bösen.

Ich möchte an Gebsers Gedanken anschließen mit eigenen Erfahrungen
von Kunst und Dichtung. Ich kann theoretisch wenig Neues hinzufügen,
ich kann nur bestätigen, dass sie hilfreich sind im inneren Prozess von
Wachstum, Öffnung und Transformation. Dazu 5 Hauptgedanken.

1. Durchsichtigkeit und Präsenz
„Poesie ist Mystik für Anfänger“ schreibt der polnische Dichter Adam
Zagajewski. Wir kennen den vielzitierten Satz von Hölderlin: „Dichterisch
wohnt der Mensch.“
Was heißt das? Jean Gebser schreibt in seinem
Essay mit dem schönen Titel Zur Geschichtsschreibung des
Unsichtbaren
, 1971:
„Alle Aussagen der Dichter zeichnet eines aus: sie evozieren die Präsenz
eines zeitfreien Ursprungs, die das sichtbare Geschehen begründet und
durchwirkt. Sie machen unsere Teilhabe am immer gegenwärtigen
Ursprung offensichtlich.“
S. 91*

Gebser spricht offensichtlich aus Erfahrung. Dichtung eröffnet einen –
sehr persönlichen – Zugang zur Transzendenz, sie ist keine
(philosophische oder gar theologische) Spekulation. Sie lässt etwas
Unbenennbares durch das Konkrete hindurchschimmern, beruhend auf
sensibler Wahrnehmung, Geduld zur Anschauung, Präsenz. Dichtung
zeigt er-lebte Wirklichkeit: einen integralen Wahrnehmungsraum jenseits
der linearen Zeit. Gebser zitiert Lorca in seinen Erinnerungen:

Auf die Frage, was Dichtung sei, antwortete er: „Was könnte ich schon
über Dichtung sagen? Was könnte ich von jenen Wolken, jenem Himmel
sagen? Schauen, anschauen, sie anschauen, ihn anschauen und weiter
nichts …. Weder du noch ich noch irgendein Dichter weiß, was Dichtung
ist. Sie ist da: schau hin!“
186 Lorca sagt also: vertrau auf deine
Wahrnehmung, die Unmittelbarkeit der Evidenz, ohne Benennung oder
Erklärung.

Rilke und Hölderlin sind Dichter, die diese Transparenz – oder in Gebsers
Worten „Diaphanität“ – zwischen den dem Sichtbaren und Unsichtbaren
besonders eindrücklich zur Sprache brachten. Gebser hat viel über sie
geschrieben. Gebser zeigt ganz konkret, z.B. am Satzbau Hölderlins,
den Hereinbruch einer zeitfreien Gegenwart. Er zitiert Hölderlins
„eigene Worte, von denen er sagt, dass sie es verdienen, Wort um Wort
gelesen zu werden: „Ich habe es einmal gesehen, das (was) meine Seele
suchte, und die Vollendung, die wir über die Sterne hinaus entfernen,
die wir hinausschieben bis ans Ende der Zeit, die habe ich gegenwärtig
gefühlt. Es war da, das Höchste – in diesem Kreis der Menschennatur
und der Dinge war es da.“

Diese Erfahrung blitzt bei Hölderlin immer wieder auf. Bei der Hölderlin-
Lektüre in jungen Jahren begegnete ich Zeilen, die ich nicht mehr
vergessen konnte, obwohl ich sie nicht verstand. In dem ebenso
großartigen wie rätselhaften Gedicht, das beginnt mit Vom Abgrund
nämlich
wird eine Erfahrung in der Natur geschildert:

Ein wilder Hügel aber stehet über dem Abhang
Meiner Gärten. Kirschenbäume. Scharfer Odem aber wehet
Um die Löcher des Felses. Allda bin ich
Alles miteinander. Wunderbar
Aber über Quellen beuget schlank
Ein Nußbaum und (Holder***) sich. Beeren, wie Korall
Hängen an dem Strauche über Röhren von Holz,

Mitten in diesem beschreibenden Abschnitt erscheint dieser Satz:
Allda bin ich Alles miteinander. Die Erfahrung einer integrativen Präsenz,
die die „Menschennatur“ und die Dinge gleichermaßen umfasst. Das
„Höchste“ ist nicht „am Ende der Zeit“ zu suchen, sondern im Jetzt. Die
geistige Bewegung ist nicht eine horizontale, suchende, dem Lauf der
Zeit folgend in Richtung eines Jenseits oder einer Utopie, sondern eine
vertikale, in die Tiefe der Gegenwart.

Von ähnlicher Potenz war für mich Hölderlins Satz „Lang ist die Zeit. Es
ereignet sich aber das Wahre“ aus Mnemosyne (1. Fassung), ein Satz mit einer
metaphysischen und philosophischen Wucht. Wahrheit ist Wirklichkeit,
ist das, was geschieht. Wahrheit ist kein Urteil sondern ein Ereignis. Man
könnte auch sagen: ein momentanes Erlebnis, denn es setzt ja ein
Bewusstsein voraus, das dessen innewird. Der Satz deutet auf die
Erfahrung einer „ursprünglichen Einheit“ hin, von der Hölderlin immer
wieder spricht. Auch Gebser verweist ausdrücklich auf diesen Satz. Um
ihn zu verstehen, muss man ihn nicht analysieren, sondern „meditieren“.

„Das Leben des Geistes ist ein Leben in der Gegenwart“ schreibt
Gebser in Wesen und Wandel des Dichterischen (UuG S. 500) und ähnlich
an vielen anderen Stellen, und er führt einen Zweizeiler von Paul Eluard
an, der eine vergleichbare Erfahrung ausdrückt:

“Je sens l’espace s‘abolir
Et le temps croître en tous sens

(Ich fühle den Raum sich aufheben
Und die Zeit in alle Richtungen wachsen“
UuG S. 501

2.Freude am Rätsel
Was in unserer mental fixierten Zeit fehlt, und was wir in so verwirrenden
Zeiten lernen müssen, ist das Aushalten von Unsicherheit, auch das
Aushalten von Nichtverstehen, das Erkennen der Beschränktheit unseres
Verstandes und die Relativität und Einseitigkeit jeder Perspektive.

Dichtung bringt uns eine besondere Art des Verstehens bei. Auch Musik
verstehen wir ja, wenn die Wörter teilweise unverständlich sind.
Manchmal können auch Lücken im Text oder rätselhafte Passagen
besonders faszinieren. (Hölderlin, Bob Dylan). Sicher ist es Vielen von
uns schon passiert, dass uns Zeilen von einem Gedicht (oder Song-Text)
im Gedächtnis bleiben, auch wenn wir sie nicht recht verstehen.
Irgendwann, vielleicht viele Jahre später, erleben wir etwas, das uns
diese Zeilen in Erinnerung ruft und plötzlich erscheinen sie glasklar.
Manche Sätze führen eine Art Eigenleben, wenn sie sich wie von selbst
ins Gedächtnis nisten, ohne dass man zunächst wüsste, warum.
Poesie verhilft uns auch zu einem anderen Verständnis der Sprache. Wie
wir seit Wilhelm von Humboldt wissen: Sprache bestimmt unseren
Zugang zur Welt. Es liegt an uns, ob dieser Einfluss eine Einschränkung
ist oder zu Bereicherung, zu weltanschaulichen Öffnung und
Experimentierfreude führt. Wenn sie Resonanzen in uns weckt, kann
Dichtung, gerade auch wenn sie rätselhaft erscheint, unser Denken, den
Radius unserer Vorstellungskraft und die Palette unserer Gefühle
dramatisch erweitern. Nach Wilhelm von Humboldt gewinnt Sprache
erst im Austausch Wirklichkeit. Das bedarf der Bemühung von beiden
Seiten, Kommunikation ist kein mechanischer Prozess. Verstehen heißt ja
wörtlich: den Standpunkt wechseln können. Das geht nur – mehr oder
weniger – begrenzt. Nach Humboldt ist jedes Verstehen auch ein
Nichtverstehen! Wer das versteht, hat schon etwas Wesentliches von der
Sprache verstanden.

In jeder Form von Kunst können wir dieses Paradox erleben: ein
Wiedererkennen von etwas, das wir noch nie gesehen oder gehört
haben: wir entdecken etwas in uns selbst, was uns bis anhin unbekannt
war. Der Maler Dieter Franck (mein Vater) schrieb in seinem Tagebuch:
„Die Malerei wird immer etwas vom Grunde des Unbekannten
heraufholen, was dem Menschen fremd genug ist, um nichts davon zu
wissen und nahe genug, um es wieder zu erkennen.“
Wir können ohne
Weiteres das Wort Malerei hier durch Dichtung ersetzen. Literatur
schenkt uns oft eine Art déja vu Erfahrung. Mir ging das so bei einer
Strophe eines Rilke-Gedichts, das uns die großartige Worterfindung
„Weltinnenraum“ schenkt. Ich zitiere es ganz, obwohl der gefühlige
Rilke-Sound mancher Zeilen heutzutage etwas befremdet.

Es winkt zu Fühlung

Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen,
aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!
Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,
entschließt im künftigen sich zum Geschenk.

Wer rechnet unseren Ertrag? Wer trennt
uns von den alten, den vergangnen Jahren?
Was haben wir seit Anbeginn erfahren,
als dass sich eins im anderen erkennt?

Als dass an uns Gleichgültiges erwarmt?
O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht,
auf einmal bringst du’s beinah zum Gesicht
und stehst an uns, umarmend und umarmt.

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.
Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.
Geliebter, der ich wurde: an mir ruht
der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.

Aus: Die Gedichte 1910 bis 1922 (München oder Irschenhausen, August/September 1914)

Wir haben hier ein Beispiel erfahrener Augenblicke von Integration: Ich
bin der Raum, in dem sich alles, was ich erfahre, abspielt. Dieser Raum
mit allem, was sich darin rührt, um erfahren zu werden, ist mein Ich-
Raum. Und doch ist dieser Raum etwas Unbegrenztes, er gehört mir
nicht allein, es ist der Bewusstseinsraum aller Wesen. Durch alle Wesen
reicht der eine Raum: / Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still / durch
uns hindurch.

Einmal vor langer Zeit im Wohnzimmer meines Elternhauses, beim Blick
in den großen, von hohen alten Bäumen umgrenzten Garten, den
gerade eine Amsel durchkreuzte, durchquerte mich auch dieser Satz. Ich
war im Zimmer und ich war der Garten und die Luft, die die Amsel
durchflog. „Alles miteinander“.

Fühlung? Einfühlung? Nicht wir wollen in die Dinge hinein, die Dinge
wollen in uns erlebt werden, sich zeigen, auftauchen und wieder gehen.
„Fühlung“ ist mehr als Einfühlung, etwas Umfassenderes, es ist
Integration in den grenzenlosen Raum des Ichs, der erlebten
Gegenwart. You are the eyes of the Universe sagt Rumi.

3. Das Konkrete: Fülle und Leere
Das integrative Sein ist keine verzückte unio mystica, sondern eine
spezielle Wachheit, erlebte Präsenz. Wie aber begegnen sich Inneres
und Äußeres?
Werden wir konkret: Wie erlebe ich zum Beispiel die machtvolle Präsenz
eines Berges? Ein wunderbares Beispiel für die geradezu körperliche
Erfahrung der Durchdringung von Innen und Außen liefert uns Jon
Fosse, der norwegische Nobelpreisträger der Literatur.

DER BERG HÄLT DEN ATEM AN
ein tiefer Atemzug
und dann stand der Berg da
dann standen die Berge da
und so stehen die Berge da

und neigen sich abwärts
und abwärts
in sich selbst
und halten den Atem an

während Himmel und Meer
streichen und schlagen
hält der Berg den Atem an.

Übersetzung von Annette Vonberg

Man kann fast nicht anders als auch den Atem anzuhalten um das Berg-
Sein zu erfahren. Lyrik ist konkret. Sie redet nicht über die Dinge,
sondern durch die Dinge, die Wörter, die Laute hindurch.
Unser Einfühlungsvermögen kennt (im Prinzip) keine Grenzen. Wir
können das rätselhafte Sein der Dinge erleben, wenn die Grenze von
Innen und Außen durchlässig wird. Dichter machen nachvollziehbar, wie
wir zur Landschaft, zum Gegenüber, zum Raum werden, der das erlebte
Geschehen beherbergt. Das Sein des Tiers, einer Landschaft, eines
Hühnerhofs oder einer Lampe wird lebendig in uns. Sein ist ein
trügerisches Wort, es wird von den Philosophen verwendet als steifes
Substantiv. In der Lyrik (in großer Lyrik) ist es aber ein Verb, ein
Geschehen in der ersten Person, ein großes Ich Bin, ohne räumliche
oder zeitliche Grenze.
Die Durchsichtigkeit kann sich nur manifestieren auf dem Hintergrund
einer Sphäre von allesumfassender Offenheit. Die asiatische Philosophie
nennt sie Leere. Leider ist dieser Begriff sehr missverständlich, Gebser
vermeidet ihn eher. Richtig verstanden zeigt sich aber eine starke
Übereinstimmung mit seinen Begriffen von Offenheit und Diaphanität.

(Beim Vortrag weggelassen:)
Nach dem chinesisch-französischen Philosophen François Cheng setzt die Leere „die
lineare Perspektive außer Kraft“.
Er bezieht sich da ganz konkret auf die chinesische
Kunst. „Leere“ bedeutet: nichts existiert isoliert und unwandelbar, es geht um
„Eine Beziehung des wechselseitigen Ineinanderübergehens, eine aktive Tätigkeit
der Leere (keine Neutralität)“ (…) „Weil sie (die Leere) allein den Prozess der
Verinnerlichung und Verwandlung ermöglicht, durch den jedes Ding, das ihm jeweils
Eigene und Andere verwirklicht und zur Ganzheit gelangt.“
François Cheng: Fülle und
Leere. Merve Verlag 2004, S.54

Die Leere in diesem Sinn ist nicht „leer“, sie ist ein nihilum plenum, eine
Offenheit mit der ganzen Fülle aller Möglichkeiten. Gebser beschreibt
die integrale Offenheit mit ähnlichen Worten als „die Offenheit, die in
dem Moment in Fülle umschlägt, da wir wahrnehmen, dass die
Sprengung des Raums durch die Zeit nicht zum (leeren) Nihil, dem
Nichts oder Nada führt, sondern zur Durchsichtigkeit.“

4. Transparenz und Transzendenz
Transparenz ist vielleicht ein besseres Wort für Transzendenz, wenn wir
diese nicht als etwas Jenseitiges sondern als Immanenz, als intensiv
gelebtes Da-Sein verstehen. Wie Bruno Latour in einem Interview sagt:

„Die Welt ist nicht so niedrig, dass man sie erhöhen müsste. Sie
wimmelt geradezu von Transzendenzen (…) Es gibt keine andere Welt,
aber verschiedene Arten und Weisen, in der vorhandenen zu leben.“

Bruno Latour (Deutschlandfunk Archiv)

Transzendenz in diesem Sinn braucht keine Religion im traditionellen
Sinn oder Vorstellungen eines Jenseits. Das aperspektivische zeitlose
Gegenwärtigsein macht auch keinen Unterschied zwischen „Wichtigem“
und „Unwichtigen“. Es ist Wahrnehmung für alles, was um uns herum
und auch in uns vorgeht, kommt und geht. Erfahrungen von
Transzendenz, wie sie in dieser Art Dichtung evoziert werden, sind
Erfahrungen der Diaphanität.

Wie die alltäglichsten Dinge durch eine demütige Aufmerksamkeit in
einem geradezu transzendentalen Glanz erscheinen können, zeigt uns
der Dichter William Carlos Williams:

so much depends
upon
a red wheel
barrow
glazed with rain
water
beside the white
chickens

Das „so much depends“ öffnet eine integrative Geste vom Größten zum
Kleinsten. „So much“ – also alles hängt von genau diesem Augenblick
ab. Ich brauche nichts weiter dazu tun, als den roten Schubkarren vor
mir, die weißen Hühner und den Glanz der Regennässe mit meiner
Wahrnehmung zu würdigen, als ein Moment einer integralen
Wirklichkeit, in der alles zusammenhängt. Was genau von was abhängt,
können wir nicht wissen, aber wir können plötzlich die allumfassende
Verbundenheit, die „Interdependenz“ aller Dinge spüren.

Wir spüren einen Zusammenhang. Da kann sich „Ein mehrdeutiges /
Gefühl der Geborgenheit“
einstellen. Diese treffende Formulierung
finde ich bei Franz Dodel, auch hier wieder eingebettet in tastbar
konkrete Beobachtungen. Der schön mehrdeutige Titel „Nicht bei Trost“
seines Endlosgedicht enthält einen ironischen Hinweis darauf, was wir in
der Dichtung finden können: Trost ist angesprochen, aber wir finden ihn
nicht so ohne Weiteres. Wir müssen sozusagen den begrifflichen und
eingeschränkten Verstand verlieren, um Trost zu gewinnen.

5. Was tun?
„Es besteht ein stilles Gesetz, dass der, welcher gewisser
Zusammenhänge ansichtig wird, es nicht ungestraft bei ihrer
Betrachtung bewenden lassen darf. Anders ausgedrückt: werden uns
gewisse Zusammenhänge anschaulich, so beginnen sie, das Bewusstsein
verpflichtend zu wirken“
Gebser, UuG1, 317
Wie werden wir dieser Verpflichtung gerecht? Das muss jeder für sich
beantworten. Allgemein möchte ich die Lage aber so beschreiben:
Nach dem linguistic turn des 20. Jahrhunderts, der uns scharfe
sprachliche Reflexion und Analyse gebracht hat aber in der
Banalisierung der Digitalisierung an seine Grenze gekommen ist, ist eine
andere Wende angesagt: ich nenne die Wende zum Integralen eine
poetische Wende. Wenn es eine lebenswerte Zukunft geben wird, wird
es eine poetische sein. Das heißt ein lebensbejahender offener Zeitgeist
wird unsere Prioritäten umordnen. Poetisches Schreiben gibt es schon.
Wir brauchen ein poetisches Leben. Das brächte keine „Umwertung
aller Werte“, vielmehr eine andere Rangordnung der Werte, die die
meisten von uns bereits haben, jedoch unter den bisherigen Umständen
kaum konsequent leben können. Ich meine eine säkulare Transzendenz,
eine Kultur der Teilhabe, die einen religiösen Rahmen haben kann, aber
nicht mehr braucht. Hannah Arendt schreibt in einem Gedicht:
„Nüchtern-mystisch, mystisch-nüchtern / Anders ist es nicht zu machen“.
Hier treffen sich Novalis und Fosse!

Poetisch leben heißt die ununterbrochene Epiphanie der Wirklichkeit vor
unseren Augen zu würdigen. Mehr Wahrnehmung, weniger Urteil! Das
ist kein süßliches Glück. Es intensiviert nicht nur das Glück, sondern auch
den Schmerz. Wenn wir diese integrale Offenheit leben, können wir uns
weder vor der Schönheit eines Augenblicks noch vor dem Leiden
anderer verschließen. „Du musst dein Leben ändern“ sagt Rilke
angesichts eines großen Kunstwerks. Unser Leben wírd sich ändern.

Ich möchte aber auf einem anderen Ton enden. Was wir gegenwärtig
dringend brauchen, ist nicht nur dichterischer „Tiefsinn“, sondern auch
poetischer Leichtsinn. Toleranz für Absurditäten, Freude an spielerischen
Überraschungen, auch die Fähigkeit, sich selbst auf den Arm zu
nehmen. Wir brauchen Humor, gerade in düsteren Zeiten.

Unbeschwertheit ist nicht gleich Verdrängung! Zu einer Wende braucht
es Wendigkeit, also innere Leichtigkeit und Beweglichkeit. Das ist auch
ein Aufwachen! Ich schließe deshalb mit der immer erfrischend
unbefangenen Dichterin Elke Erb

Ich wache auf

und finde einen Zettel, auf dem steht:
Ist mir doch egal
Ich lese immer morgens
„der knallblaue Bach“

(mit am Rand
den Vergissmeinnicht).

Und: mein Pferd ist im Stall.
Es ist nicht der Sinn des Pferdes, sich zu zeigen.
Alle Federpracht trägt der Pfau auf dem Rücken.
Er weiß von nichts.

Ich geh Blumen pflücken.
Das ist hier der Fall.

(in Elke Erb, Das ist hier der Fall. Ausgewählte Gedichte. Suhrkamp 2020)

*Vgl. Sand Talk von dem australischen Aborigine Philosophen Tyson Yunkaporta, Sand Talk. Das
Wissen der Aborigines und die Krisen der modernen Welt, Matthes und Seitz Berlin, Berlin 2021
oder Carel van Schaik & Kai Michel – Die Welt im Krisenmodus, Rowohlt 2023 )
** Gebser-Zitate, wenn nicht anders angegeben, aus: Lass mir diese meine Stimme. Chronos
Verlag, Zürich 2026. Sonst (UuG) aus Ursprung und Gegenwart, Zweiter Teil, Chronos Verlag
Zürich 2015
*** Ich habe mir erlaubt, hier eine Leerstelle in Hölderlins Gedicht zu ergänzen. „Holder“, südd. für
Holunderbusch, scheint mir fast zwingend die Lücke im Original zu füllen, weil alles passt: Versmaß,
der Strauch, die röhrenförmigen Zweige, die Farbe der Beeren… Holder war aber auch ein Name, mit
dem ihn seine Freunde riefen. Offene Stellen in Hölderlins Gedichten sind ja häufig, sie sind aber kein
Kunstgriff sondern zeigen einfach, wo er noch nicht weiterwusste. Hier aber scheint die Lücke eher
Absicht, vielleicht eine Scheu, den eigenen Namen als Wort zu verwenden.