Dorothea Franck

Dorothea Franck schreibt über Sprache, Literatur und Philosophie. Sie beschäftigt sich mit der Poetik des Alltags, der Logik der sinnlichen Intelligenz und dem Zusammenhang von Ethik und Ästhetik.

Sterben für Anfänger

Ludwig Hohls ars vivendi als Schule des Sterbens.

Sterben ist in Mode. Die Überdosis von Gesundheit und ewiger Jugend in der Schwemme der Lebensratgeber schafft sich einen Ausgleich mit Anleitungen zum Betreuen von Sterbenden und hier und da, seltener allerdings, auch mit sinnigen Hinweisen zur Vorbereitung auf den eigenen Tod. Kaum einer der Schreiber unterlässt dabei den Hinweis, der Tod sei immer noch ein Tabu. 

Das können natürlich nur diejenigen sagen, die ignorieren, dass jede tiefergreifende Philosophie und Religion seit je nichts anderes war als das Umgehen mit unserer Sterblichkeit. 

Das mittelalterliche Thema des Totentanzes, in dem das pralle Leben auf den unerbittlichen Tod trifft, der die Lebensfreude aber auch die bitteren Ungleichheiten des Lebens endet, kehrt in Kunst, Dichtung und Musik bis heute in Variationen zurück. Dabei changiert der Ton zwischen Furcht und Schrecken einerseits und andererseits Lebensmüdigkeit, milder Akzeptanz oder gar Todesverlangen. Bern lässt das mutwillig zerstörte Totentanz-Wandgemälde des Berner Malers Niklaus Manuel wieder aufleben in einer ganzen Reihe von Veranstaltungen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass Manuel nicht nur Maler, Dichter und Staatsmann sondern auch Krieger und Bilderstürmer war. Hat das Schicksal an seinem größten Bild eine späte Rache genommen? Und sorgt jetzt für eine virtuelle Auferstehung?

Der Tod tanzt. Er braucht sich vor sich selbst ja nicht zu fürchten. Auch heute wird ab und zu genüsslich mit dem Makabren gespielt. Die Konfrontation mit dem Tod soll nicht nur Furcht erregen sondern auch die Intensität des Lebens steigern. In Zürich und vielleicht auch andernorts geht man ins «Death Café».  Dort treffen sich, nach eigener Auskunft, „ Menschen in ungezwungenem Rahmen, sprechen über den Tod und berichten über Ängste und Hoffnungen. Ziel ist, „dass die Besucher eines «Death Café» sich inspirieren lassen und mit einem gesteigerten Bewusstsein über den Tod ihr Leben in vollen Zügen geniessen können.“

Es wird Herbst und mit dem Verfärben der Blätter wächst die Bereitschaft, sich dem Thema der Vergänglichkeit auszusetzen. In einer Ankündigung von Kursen der Volkshochschule Crailsheim, einer kleinen Stadt im Süddeutschen, habe ich einen Kurs entdeckt: Sterben für Anfänger. Da ich diesen versäumen muss, möchte ich bei ein paar Schriftstellern und Dichtern zu Rate gehen, denn ihnen traue ich mehr Einsicht zu als professionellen Ratgebern. 

1.
Leben heisst leben wollen, Leben will Kontinuität. May you stay forever young – bei jedem Geburtstag wünschen wir einander Gesundheit und langes Leben. Und zu allen Zeiten gab es Hoffnungen, dass es möglich sei, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, sei es nun bei westlichen oder östlichen Alchemisten, in Legenden von Jungbrunnen und Lebenselixieren oder zeitgenössischen Verheissungen von Medizin und Genwissenschaften. 

Doch wer geboren wird, wird sterben. Können wir uns ein Leben ohne den Horizont des Todes denken? Es gibt kaum einen Philosophen, der das bejahte. Können wir es wünschen? Ist es nicht ein Wunsch, den wir nur verfolgen, weil wir davon ausgehen, dass er letztlich unerfüllbar ist, wie ein Kind, das sich lauthals wünscht, nur noch Eiskrem zu essen? Vielleicht führt der geäußerte Wunsch ja dazu, heute eine zweite oder dritte Portion zu erhalten. Lebensverlängerung – wer ausser Schwerkranken und Verzweifelten wünschte sie nicht? Doch das ist nicht das Gleiche wie ein Leben ohne Tod.

In der Legende des Ahasverus ist nicht sterben zu können ein Fluch. Zu endloser Wanderschaft war der Ewige Jude verdammt, und auch die Legende hatte ein zähes Leben; angeblich war er selbst in der Schweiz gesehen, noch im Jahr 1602 soll er sich in Basel und auch in Bern aufgehalten haben, wo man, Gerüchten zufolge, die heutzutage im Internet weiterwandern, seine großen Schuhe aufbewahrt. Ein endloses Leben bewirkt die totale Inflation des Wertes, den wir dem Leben zumessen. Auch in anderen Legenden und Schauergeschichten werden die, die nicht sterben können, zu Untoten. Das ist nicht die Unsterblichkeit die wir uns wünschen.

2.
Vor einigen Jahren brach in der Wohnung direkt unter mir ein heftiger Brand aus. Ich merkte es erst, als das Feuer schon vor meinem Fenster loderte. Trägt  der Boden noch? Wird die Treppe noch begehbar sein? Ich war merkwürdig gefasst, fühlte keine Todesangst. Bin ich bereit zu sterben? Warum nicht? Doch die Antwort stand mir plötzlich klar vor Augen. Nein. Dieses Leben war zu kurz: ich habe eine ganz bestimmte Aufgabe noch nicht erfüllt. Sie stand mir jetzt klar und dringlich vor Augen. Die Feuerwehr war schnell, das Haus brannte nicht ab. Die Klarheit, die dieser Augenblick mir brachte, kompensierte die Rauchschäden. Die Zweifel an der Erfüllbarkeit der Aufgabe kamen erst später. 

Wer memento mori sagt, weist damit energisch ins Leben zurück. Der Satz soll Konsequenzen im Leben haben, der Gedanke an den Tod soll uns ein besseres Leben lehren. Wenn wir uns „mehr Leben“ wünschen, was wünschen wir uns dann? Bei Rilke finde ich ein überzeugendes Bild und eine harte Einsicht, jenseits aller Erbaulichkeit. 

Sieh, so ist Tod im Leben. Beides läuft
so durcheinander, wie in einem Teppich
die Fäden laufen; und daraus entsteht
für einen, der vorübergeht, ein Bild.

Wenn jemand stirbt, das nicht allein ist Tod.
Tod ist, wenn einer lebt und es nicht weiß.
Tod ist, wenn einer gar nicht sterben kann.
Vieles ist Tod; man kann es nicht begraben.

In uns ist täglich Sterben und Geburt
(…) (Die weiße Fürstin)

Hier bekommt der Tod eine andere Dimension. Es ist nicht der abrupte, absolute Endpunkt des Lebens sondern etwas, was das Leben immer durchwirkt. Und das ist nicht nur der Tod der Anderen. Hier geht es nicht um die Dauer des Lebens sondern um die Art wie es gelebt wird, nicht um die Länge sondern seine Intensität, man könnte auch sagen seine Tiefe. Es geht um Bewusstsein. Tod ist, wenn einer lebt und es nicht weiss. 

Das Leben ist eine fortwährende Ablenkung, die nicht einmal zur Besinnung darüber kommen lässt, wovon sie ablenkt’ sagt Kafka.  Ist es der Tod, vor dem wir uns in Zerstreuung flüchten? Bringt uns erst der Tod zur Besinnung? 

Sterblichkeit wird uns zuerst schmerzhaft bewusst, wenn Menschen in unserer Nähe uns entfallen. Trotzdem bleibt die eigenartige Illusion: Sterben – das tun die anderen. Philosophen und Religionen halten uns seit je dazu an, uns unsere Sterblichkeit immer wieder vor Augen zu führen. Was aber soll die Wirkung dieses Gedenkens sein?

‚Philosophieren heisst Sterben lernen’ ist wohl Sokrates bekanntester Satz. Das ist sicher nicht düster gemeint, Sokrates starb heiter. Jeder kennt weise und erbauliche Sprüche zum Thema Tod und Vergänglichkeit, aber wie übersetze ich sie in mein eigenes tägliches Leben? 
Der Schweizer Schriftsteller Ludwig Hohl, beginnt und endet sein Hauptwerk, Die Notizen, mit der Kontemplation des Lebens angesichts des Todes. 

Der Mensch lebt nur kurze Zeit.
Verhängnisvoll, sich einzubilden – genauer: die kindische Einbildung zu bewahren -, dass wir lange leben. Alles würde, wenn wir von der Kürze unseres Lebens wüssten, sehr geändert sein. 
Nun sieht unser Leben von der Kindheit aus gesehen freilich lang aus; von seinem Ende aus unerhört kurz; welches ist seine reale Dauer? Sie hängt davon ab, wie oft und von wie früh an du dein Leben als kurz betrachtet hast.
(Denn nicht die Uhr misst die Länge eines Lebens; sondern das, was drin ist.)
 
(Die Notizen I, 1)


Jeder Dichter, der den Tod ausdrücklich zum Thema macht, stellt dem Tod einen komplementären Begriff, eine Antithese oder eine Entelechie des Todes gegenüber. Bei Montaigne ist es die Freiheit. „Auf den Tod sinnen heißt auf Freiheit sinnen. Wer sterben gelehrt hat, versteht das Dienen nicht mehr.“ Bei Ludwig Hohl ist die große Antithese die Arbeit. Seine Notizen beginnen mit 

Wie kann ich diese Klarheit behalten oder wiedergewinnen? Wohl nur durch die Erneuerung des Blickes auf das Leben vom Ende her. Ludwig Hohl fährt fort am Anfang der Notizen:
Alles, was wir handeln, muss, wenn es Wert haben soll, vom Betrachtungspunkt der Kürze unseres Lebens aus gehandelt sein. (…)
Es ist das eigene Tun, zu dem nicht fremde äussere, sondern innere Gewalten nötigen – das einzige, was Leben gibt, was retten kann. 
Solches Tun nenne ich Arbeiten. (I,1)

Gegen Ende der Notizen widmet Hohl dem Tod ein eigenes Kapitel. Hier ein paar Auszüge, die erkennen lassen, woher er seine eigenartige Kraft und Radikalität erhält.
Wer nie sagen konnte: „Tod, wo sind deine Schrecken?“, hat nicht mitzureden.
 Wer aber nie erkannte, dass er sterben wird, auch nicht. (XI, 13)

„Sich vorbereiten auf den Tod?“ 
Nein! Du musst ihn angenommen, dich vollständig mit ihm abgefunden haben; – nicht ihn studieren (es gibt da für uns nichts zu studieren), sondern mit ihm 
beginnen zu denken.
(…)
Während Ärzte und andere Spezialisten einiges am Tod studieren können, wird nur dieses Einfachste von dir verlangt: in all deinem Tun bewusst zu sein, dass er eine totale Tatsache ist.
Wie deine Kräfte sich erhöhen und Richtung nehmen in die Welt! Wie auf einmal der Strahl des Sehens aus dir bricht über die Welt!
Du tust Wirkung, du siehst Farben, dein Leben erhält einen 
Wert. (Die Notizen XI, 18)

Amor fati, 
Nietzsches Begriff der Hingabe an das eigene Schicksal, klingt hier anDie für Hohl typische Verbindung von Unbedingtheit der Anforderung und radikaler Akzeptanz des Schicksals verdankt sich seinem Verhältnis zum Tod.


Was bedeutet dabei die Betonung des Arbeitens: ein schweizerischer Zug des sich so unschweizerisch fühlenden Schriftstellers? Vielleicht ist es die Wortwahl tatsächlich, es geht hier aber nicht um die übliche, van aussen bestimmte Arbeit. Arbeit heisst, mit grösstmöglicher Ernsthaftigkeit die eigene Aufgabe finden und annehmen.

Immer wieder. – Ja, zweifellos ist alles schon dagewesen (oder: ist immer irgendwo da). Aber immer dringender, dringender wird mir die Notwendigkeit, die paar grossenWahrheiten, diese allereinfachsten Dinge (wie, dass der Gedanke des Todes der Anfang unseres Denkens sein muss) immer wieder aus dem Schutt hervorzuarbeiten und „an den Mann zu bringen“. (XI, 2)


Hohls Notizen zum Tod sind eine Sammlung von Notizen, die nur zum kleineren Teil den Tod explizit thematisieren. Viele Bemerkungen erhalten aber gerade dadurch einen besonderen Sinn, dass sie unter dieses Thema eingeordnet wurden. Es ist jedoch nicht einfach, einen – oder mehrere rote Fäden in ihnen zu entdecken. 
Ich versuche ein paar Linien aufzuzeigen.
– Tod als Rahmen, unter dem sich Sinn erst ergibt.
– Das Umschlagen von Subjektivität in Objektivität, wobei diese Objektivität eine neue Bedeutung erhält, „Eingehen in die Dinge “, eine ego-lose innere Objektivität,
– Das Passieren der Dinge durch uns hindurch 15
– arte vivendi, Keine Vorstufe, keine Vorbereitung 13,14, 15
– ewig sein, vergänglich sein- die Kraft, die über die Form hinausgeht
– Leichtigkeit 28


3. 
Tod und Traum – ist der Tod „Schlafes Bruder“? Wie weit geht die Verwandtschaft? Wer einschläft, wacht wieder auf. Es gibt eine Welt auf der anderen Seite des Schlafes, aus der heraus man in den Schlaf ‚fällt’ und in die hinein man wieder erwacht. Wer entschläft, wie wir das Sterben ja auch nennen, – in welcher Weise erwacht er wieder? Die Vorstellung einer Gegenbewegung, das Übergehen in eine andere Welt braucht nicht irgendeiner Theologie geschuldet zu sein sondern erscheint uns ganz einfach als eine auf der Hand liegende Ergänzung des Bildes, die man fast nicht unterdrücken kann. 

Das Leben als Traum ist ein altes Thema. Wir finden es in allen Kulturen. Dann wird das Sterben nicht als Einschlafen gesehen sondern als ein Erwachen – aus einem grossen Traum, den wir lebenslänglich für harte Realität hielten. 

Die Grenze zwischen den Wirklichkeiten ist ja nie ganz scharf zu ziehen, das kann erhebende Momente ergeben aber auch beängstigen. Der schlimmste Albtraum, an den ich mich erinnern kann, war ein Traum, aus dem ich nicht aufwachen konnte. Es geschahen unangenehme Dinge, aber die waren nicht einmal so schlimm. Einen riesigen Schrecken bekam ich erst, als ich aufwachte, beziehungsweise träumte aufzuwachen, und dann ging die Geschichte in ähnlicher Weise weiter. Aber jetzt dachte ich, das sei die „wirkliche Wirklichkeit“, aus der ich nicht entfliehen kann, denn ich war ja vermeintlich schon wach. Diese Unentrinnbarkeit jagte mir einen solchen Horror ein, dass ich später, als ich dann doch aus dem doppelt-gestrickten Traum erwachte, an allen Gliedern zitterte.

Ludwig Hohl beschreibt ein ähnliches Erlebnis, allerdings im Zusammenhang mit einem schönen Traum, aus dem er in Tränen erwachte. Er träumte den Tod seiner Grossmutter, wo der Abschied sich vollzog mit einem wunderbar harmonischen gemeinsamen Singen.
Im selben Traum habe ich ausserdem aufs deutlichste zu sehen gemeint, was ich jetzt schon nicht mehr verstehe: dass, wie der Traum sich zum Wachen verhält, das Wachen sich zu einem noch wacheren Wachsein verhalten muss, welches daher existieren muss und uns, wie ich jetzt den Traum, betrachtet mitsamt unserem Träumen und Wachsein …
(X, 7)

Er ist nicht der Einzige, der sich mit dieser Versträngelung und Verschachtelung der Wirklichkeiten beschäftigt. Fernando Pessoa schreibt im Buch der Unruhe:
Ich schreibe wie ein Schlafender, und mein ganzes Leben ist eine zu unterschreibende Quittung.
(…)
Ich bin fast davon überzeugt, dass ich niemals wach bin. Ich weiß nicht, ob ich nicht träume, wenn ich lebe, ob ich nicht lebe, wenn ich träume, oder ob Traum und Leben bei mir nicht vermischte, einander überlappende Dinge sind, aus denen sich mein bewusstes Sein dank gegenseitiger Durchdringung herausbildet. S.158, Nr 124

Wir kennen alle die Geschichte des chinesischen Weisen, der von einem Schmetterling träumt und sich fragt, ob er nun der Schmetterling sei, der träumt er wäre ein Mann oder der Mann, der träumt, Schmetterling zu sein. Das ist nicht nur ein charmantes Bild sondern eine Aufforderung, die Wirklichkeit der Wirklichkeit zu überdenken. Diese Frage finden wir nicht nur bei Philosophen, Theologen und östlichen Weisen, sie ist auch in Kinderbücher und Science Fiction Filme gedrungen. Sie ist subversiv, sie ist überall. Aber ist sie mehr als Spekulation, die dem Gehirn ein angenehmes Kitzeln verschafft?
Ludwig Hohl erträumt sich sozusagen eine Antwort, auch wenn er sie im Wachzustand nicht mehr ganz versteht. Es ist fast eine mathematische Gleichung: so wie das Wachsein sich zum Träumen verhält, so verhält sich das normale Leben zu einem noch wacheren Wachsein, dieses Wachsein muss es geben. Eine Assoziation zur buddhistischen Lehre ist fast unvermeidlich. Wir leben in einem Traum, der Leiden verursacht, weil wir nicht wissen, dass wir träumen. Aber wir können erwachen. 

Diese Einsicht – auch wenn es nur eine Vermutung oder ein Gedankenexperiment ist – hat nur Wert, wenn sie sich in unser Leben so übersetzen lässt, dass wir weniger am Gewicht der Wirklichkeit leiden. Wir müssen den Wunsch, unsere Zeit zu nutzen, die Ernsthaftigkeit und die Hingabe an das, was Hohl „Arbeit“ nennt, verbinden mit der Freude am Spiel. Wenn wir die Gewissheit des Todes angenommen und in unsere Lebensführung  „übersetzt“ haben, dann könnte das Leben ein bisschen von der Leichtigkeit des Traumes gewinnen – des luziden Traumes! Am Eingang der ägyptischen Unterwelt wird das Herz des Verstorbenen gewogen – es muss leicht sein! Nur wenn es nicht schwerer wiegt als die Feder der Göttin Maat, darf der Gestorbene seinen Weg zum Reich der Götter fortsetzen.

Ein waches Träumen brauchen wir, ein wacheres Wahrnehmen zu üben. Leben und wissen, dass man lebtOder wie Hohl schrieb: 
Man kann nur sehen (…) in einem Rahmen. Unser Rahmen ist der Tod. (XI, 19)
Das Bewusstsein der „totalen Tatsache“ des Todes erhöht die Kräfte, befreit einen „Strahl des Sehens“: Du tust Wirkung, du siehst Farben, dein Leben erhält einen Wert. (XI, 18). Wer leben kann, weiß auch zu sterben.

Vermehrte Aufmerksamkeit zieht das Leben nicht in die Länge aber lässt es an Tiefe gewinnen. Mehr Leben heisst lernen, den Augenblick tiefer auszuloten, die Sinne zu schärfen und nicht vom sorgenden Denken überwuchern zu lassen. Lernen, das Leben zu erleben
Hohl zitiert Karl Kraus: Der Dichter soll mehr erleben? Er erlebt mehr. (Motto VI)

Sich darin zu üben braucht seine Zeit. Es geht darum, hellsichtig zu werden wie die Dichter. Robert Walser schrieb: Man sah es den Wegen am Abendlicht an, dass es Heimwege waren. Wer solche Sätze schreiben kann, weiß sich mit Novalis – letztlich – immer auf dem Heimweg. 

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Ludwig Hohl: Die Notizen. Suhrkamp 1981 (und 2014)
Zuerst in zwei Bänden bei Artemis, Zürich, 1944 und 1954